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Global Literature: Ein Speer aus tiefer Vergangenheit

In den Slums einer afrikanischen Großstadt: Der aus Benin stammende Ryad Assani-Razaki und sein aufwühlender Debütroman „Iman“.

Vor zehn Jahren kam der aus dem zentralafrikanischen Benin stammende Ryad Assani-Razaki in die USA, studierte dort und zog weiter nach Kanada, wo er heute als Computerfachmann und Autor lebt: eine moderne Migrationsgeschichte, eine von Millionen, eine mit glücklichem Ausgang.

Jede einzelne von ihnen hat ihre eigenen Weggabelungen und Sackgassen, ihre Um- und Abwege, ihre Fallen und Verlockungen. Ryad Assani-Razakis erste Erzählungen handelten von solchen Lebensläufen, vom Wagnis, einer Heimat den Rücken zu kehren, die es nicht gut mit einem meint, und zum Fremden zu werden in einem Land, das einen nicht willkommen heißt. Lampedusa ist überall.

Assani-Razakis nun auf Deutsch erschienener erster Roman geht ein paar Schritte zurück. Er führt in ein namenloses zentralafrikanisches Land, das Benin heißen könnte. Er handelt von mehreren jungen Menschen, die sich irgendwann die Frage stellen müssen, ob sie bleiben oder sich der Gefahr aussetzen sollen, in schäbigen Barkassen übers Meer zu schaukeln, um forthin als „Illegale“ zu leben. Die Antwort ist nicht leicht. Und sie beinhaltet die Ahnung, dass gerade Herkunft und Vergangenheit einem so sehr im Nacken sitzen, dass man sie auch in der Fremde nicht abschütteln kann. „Man sagt, der Mensch habe sein Schicksal in der Hand“, heißt es, aber das ist eine Lüge. Meist ist das Schicksal bloß die Spitze eines Speers, den jemand mehrere Generationen zuvor abgeworfen hat.“

Liest im Rahmen einer Deutschlandreise am 11. März im Heimathafen Neukölln. Ryad Assani-Razaki.
Liest im Rahmen einer Deutschlandreise am 11. März im Heimathafen Neukölln. Ryad Assani-Razaki.

© Philippe MATSAS/Opale/(Wagenbach

Mit dem Roman „La Main d’Iman" gewann Assani-Razaki 2011 den kanadischen Preis Robert Cliche für das beste Debüt. Im Deutschen heißt das Buch nun schlicht nach einer der Hauptfiguren „Iman“ – nicht zufällig ein Anagramm von „main“. Zu Deutsch: die Hand. Diese spielt eine bedeutsame Rolle. Sie ist es, die den kleinen Toumani aus einem Abwasserkanal zieht, wo er, schwer verletzt und von Ratten bereits als hilfloses Festmahl auserkoren, seit Tagen gelegen hatte. Toumani ist neben Iman der andere Held dieses vielstimmigen Romans, ein kleiner Junge, der von seinem Vater für 23 Euro verkauft wird und anschließend als Haussklave für den cholerischen Monsieur Bia arbeiten muss.

Bia schlägt das Kind, er schlägt es in einem fort, einmal mit solcher Brutalität und Wucht, dass Toumani anschließend für ihn nicht mehr zu gebrauchen ist – er wirft ihn wie ein überflüssig gewordenes Haushaltsutensil auf den Müll. Toumani, von Iman vor dem sicheren Tod bewahrt, verliert nach dieser Misshandlung ein Bein. Retter und Geretteter werden unzertrennliche Freunde, wachsen gemeinsam auf. Ungleich erscheint diese Freundschaft gleichwohl: Iman ist der unabhängige, rastlose Geist, immer auf der Flucht, sich immer wieder entziehend, immer auf der Suche nach sich selbst.

Toumani ist der Haltsuchende, der sich nach der rettenden Hand Imans sehnt, der nicht ins Leben hineinfindet, weil er „gar nicht richtig geboren worden war“. Iman ist aber auch, wie sein Name schon sagt, der Gläubige, aber nicht im religiösen Sinn – er erhofft sich einfach mehr als das, was ihm seine Heimat zubilligt, er glaubt an ein besseres Leben. Von Anfang an weiß er, dass ihn niemand dabei unterstützen wird, dass er auf sich allein gestellt ist. Toumani und Iman – zwei Pole. Immer wieder arbeitet Assani-Razaki mit solchen Gegensatzpaaren, mit Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Es geht eben um alles oder nichts.

Ryad Assani-Razaki ist dabei ein intuitiver Erzähler. Die handlungsreiche Geschichte trägt das Buch, nicht so sehr der von Sonja Finck vom Französischen ins Deutsche gebrachte Ton, der schnörkellos ist, einfach, fast ein wenig nuancenlos. Der Autor versteht es mit simplen Mitteln, aber nicht ohne kompositorisches Geschick, Spannung aufzubauen. Er schildert die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven, Erzählfäden werden von unterschiedlichen Protagonisten aufgegriffen und weitergeführt. So entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht. Assani-Razaki lässt die Mutter und Großmutter von Iman zu Wort kommen, immer wieder die beiden Jungen selbst, und das Mädchen Alissa, in das sich beide verlieben werden. Jede der Figuren sucht nach Nähe. Und jede bleibt für sich. Sie sind bis zur Sprachlosigkeit eingeschüchtert von dem, was ihnen widerfährt, geprägt durch ihre Herkunft, die Religion und die Ängste, die sie mit sich tragen.

Der Speer, der vor mehreren Generationen abgeworfen wurde, trifft früher oder später alle. Besonders Iman. Er ist die komplexeste Figur in diesem beachtenswerten Roman: Als Kind eines weißen Franzosen und einer Schwarzen ist er auf der Suche nach seiner Identität, fühlt sich nirgendwo zugehörig und verspürt einen unbändigen Drang, ins Land der ehemaligen Kolonisatoren zu entfliehen, um sich seiner selbst zu vergewiss ern.

Es ist nicht allein das Elend, das Menschen, vor allem junge Männer, aus den afrikanischen Armutsgebieten in die Festung Europa treibt. Toumani, in den Slums dieser namenlosen Großstadt hausend, kommt nicht auf die Idee, das Wagnis einer Flucht einzugehen – und das nicht nur, weil ihn seine Behinderung davon abhielte. Er hängt trotz allem an seiner kleinen Welt, den wenigen Verbindungen, die er sich geschaffen hat und ihm deshalb umso wertvoller erscheinen.

Assani-Razaki hat kein politisches Buch geschrieben. Er liefert keine Analysen, sondern erzählt Geschichten. Darin aber wird die ganze soziale Drangsal im Hintergrund sichtbar. Man lernt die neu entstandene Bourgeoisie kennen, die sich kleine Jungen und Mädchen als Sklaven hält; die ehemaligen Kolonialherren, die sich in schwarze Frauen verlieben oder sie zumindest begehren, aber im Zweifel doch an ihre angestammten Plätze zurückkehren.

Man erfährt etwas über die alltägliche Brutalität, die nicht nur aus Not entsteht, sondern auch mit postkolonialen Verwerfungen zu tun hat. Man spürt die Unruhe einer Gesellschaft im Umbruch und erlebt die Macht der Tradition, die stabilisiert und zugleich verhindert, dass sich emanzipatorische Gedanken durchsetzen können.

Was am Ende geschieht, lässt sich in seiner psychologischen Drastik kaum voraussehen, und doch ist es als Folge der immer präsenten Gewalt nur konsequent. Keiner kommt ohne Wunden davon. Und wer sein Schicksal in die Hand nimmt, muss einen sehr starken Willen haben, um nicht zu zerbrechen.

Ryad Assani-Razaki: Iman. Roman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Wagenbach Verlag, Berlin 2014. 316 Seiten, 22,90 €.

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