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Kultur: Göttinnen mit Bubikopf

Die RETROSPEKTIVE „City Girls“ zeigt, wie modern Frauen schon in den zwanziger Jahren lebten

Große Gefühle, eine typische Stummfilmszene: Die Heldin wirft sich heulend auf einen Sessel. Ihre Hände flattern, die Augen rollen. Dann schwenkt die Kamera auf einen Blumenstrauß neben dem Sessel. „Happy Birthday“ steht auf der Glückwunschkarte. May McAvoy spielt in „Lady Windermere’s Fan“, Ernst Lubitschs 1925 entstandener US-Verfilmung von Oscar Wildes Komödie, eine Dame der gehobenen Gesellschaft, die ausgerechnet an ihrem Geburtstag herausgefunden zu haben glaubt, dass ihr Mann sie mit einer anderen Frau betrügt. In Wirklichkeit ist diese Frau ihre eigene Mutter, die sie für tot hält.

Eine „Frau mit Vergangenheit“, so nannte man diesen Typus, den Irene Rich in „Lady Windermere’s Fan“ sehr elegant, mit viel Lidschatten, Haartuch und im bodenlangen Samtkleid verkörpert. Weil sie einen „Fehltritt“ begangen hatte, musste sie einst England verlassen. Ein Rezensent schwärmte vom „Zauber dieser modernen großen Frau“.

Lubitschs meisterhafte Gesellschaftssatire gehört zu den rund fünfzig Filmen, die die Retrospektive der Berlinale unter dem Titel „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“ präsentiert. Der früheste Beitrag, ein dänischer Asta-Nielsen-Film mit dem Titel „Afgrunden“ (Abgründe), stammt von 1910, aber der Schwerpunkt der Reihe liegt in den zwanziger Jahren. Es war eine Ära, in der traditionelle Rollenbilder ins Rutschen gerieten und der Jugendkult begann. Irene Rich gibt in „Lady Windermere’s Fan“ ihr Alter nicht preis, ihre Tochter wird 21, aber sie will weiterhin das Leben einer ungebundenen, Flirts nicht abgeneigten Verführerin leben. „Jugend bis ins hohe Alter“, lautete die Parole der „Neuen Frau“. Die Zeitschrift „Die Dame“ konstatierte 1924: „Die Bubenköpfe machen selbst eine ,mittelalterliche Frau‘ zu einer von Mitte, Ende zwanzig. Über dieses Alter geht die Mode nicht.“

Der Erste Weltkrieg hatte einen Hunger nach Leben geweckt, die Gier nach Zerstreuung, die sich in den von Jazzklängen erfüllten Bars und Tanzpalästen der Großstädte erfüllte. Den jungen Mädchen des Jazz-Zeitalters wurde in den USA ein treffender Name verpasst: Flapper. „To flap“ heißt „flattern“, es meint das hilflose Mit-den-Flügeln-Schlagen junger Vögel im Nest, an das die Tanzbewegungen beim Charleston, das Auf- und Abwärtsstoßen angewinkelter Arme aus den Schultern heraus, erinnerte. Zur Inkarnation des Flappers stieg Louise Brooks auf, die Schauspielerin mit dem beeindruckendsten Bubikopf der Epoche. In „Love ’Em And Leave ’Em“ (USA 1926) spielt sie ein wildes, freches Ding, das nicht davor zurückschreckt, sich mit Unschuldsmiene an den Verlobten seiner Schwester heranzumachen. Janie trägt beim Charleston-Wettbewerb Zylinder, ihren Job als Schuhverkäuferin in einem New Yorker Warenhaus sieht sie als Chance, den Chefs näherzukommen. Am Ende siegt das Patriarchat, die Schwester heiratet, Janie geht leer aus.

Flapper vereinen, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, Unschuld und Berechnung, sie spielen mit ihrem Sexappeal. „Mit den Träumen der Backfische teilt die Lust des Flappers den märchenhaften Plot“, schreibt Heike-Melba Fendel im Begleitbuch zur Retrospektive („City Girls“, hrsg. v. Gabriele Jatho u. Rainer Rother, Bertz + Fischer, 175 S., 22,90 €) . „Aber der Flapper belässt es nicht beim Schwärmen, er schwärmt aus, fühlt vor und zieht alle Register.“

Der Film, in dem Clara Bow die ganze Raffinesse weiblichen Umgarnens vorführt, heißt schlicht „It“ (USA 1926/27). Er machte Bow zum Superstar, fortan galt sie als „It-Girl“. Sie war in Brooklyn aufgewachsen, hatte einen Talentwettbewerb des Fanmagazins „Motion Picture“ gewonnen und schon vor „It“ bis zu 15 Filme im Jahr gedreht. Nach ihrem Karriereende und dem Rückzug ins Privatleben wurde bei ihr unheilbare Schizophrenie diagnostiziert. In „It“ gelten ihre Avancen ältlichen, onkelhaften Herren. Gary Cooper hat nur eine kleine Nebenrolle. Der Charme der Flapper ist umwerfend, und die Männer an ihrer Seite bleiben blass.

Der Gegenentwurf zum Flapper, gewissermaßen seine ältere Schwester, ist der Vamp. Während der Flapper als – so ein Kritiker 1920 – „drolligste Verkörperung knospender Weiblichkeit“ geschätzt wird, ist der Vamp von einem Fin-de-Siècle-Hauch umweht, etwas Morbides geht von ihm aus. Statt quecksilbriger Agilität prägt heiligenbildhafte Statuarik die Auftritte der Männer-Verderberinnen. Es sind Göttinnen, keine Girls. Pola Negri, eine gebürtige Polin, sorgte in Lubitsch-Filmen wie „Carmen“ (D 1918), „Madame Dubarry“ (D 1919) oder „Forbidden Paradise“ (USA 1924) für geheimnisvolle Exotik. Und Greta Garbo, die unsterbliche Schwedin, war die Frau, nach der man sich generell verzehrte, in „Flesh And The Devil“ (USA 1926/27) bringt sie zwei Verehrer fast um den Verstand.

„Girl neben Girl gestellt wie die Posten einer Summe, machen noch lange keine ,Girls‘, das macht erst die vollzogene Addition, die Verschmelzung der Einzelwesen zum Kollektivum. Mehrere, sagen wir etwa zwölf weibliche Wesen à zwei Beine, ergeben noch keine Girls. Erst bis sie ein Wesen mit vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht“, bemerkte Alfred Polgar 1926. Aus der Beschreibung der GirlsTanztruppen in den Revuetheatern spricht auch männliche Angst, Frauen drangen in den zwanziger Jahren in Domänen ein, die ihnen bislang verschlossen waren. In Deutschland verdreifachte sich die Zahl der weiblichen Angestellten zwischen 1907 und 1925. Stenotypistinnen und Verkäuferinnen, die „kleinen Ladenmädchen“, von denen Siegfried Kracauer sprach, prägten das Berliner Straßenbild. Der Film „Norrtullsligan“ (Schweden 1923) zeigt den Egalitarismus der industrialisierten Arbeitswelt. In Reih und Glied sitzen weibliche Schreibkräfte, „Tippmamsells“, hinter ihren Schreibmaschinen, zu unterscheiden nur daran, ob sie eine Brosche oder Schleife zur weißen Bluse tragen.

„Will you come with me to a talkie tonight?“ – kommst du mit in einen Tonfilm? Der Zwischentitel in „A Cottage On Dartmoor“ (GB, Schweden 1929) kündigt das Ende des Genres an. Die Heldin, eine von Norah Baring gespielte Maniküre in einem Frisiersalon, lehnt die Einladung ihres Kollegen ab und löst damit eine Tragödie aus. Der Friseur rast und schlachtet seinen Rivalen, einen behäbigen Farmer, mit dem Rasiermesser beinahe ab. Der Friseur muss ins Gefängnis, die Maniküre heiratet den Farmer und zieht mit ihm ins Dartmoor, ein idealer Schauplatz für das hitchcockeske Finale des Krimis. Vorher gibt es eine Szene im Kino. Man sieht die Gesichter der Zuschauer in Großaufnahme, gebannt vor der Leinwand.

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