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Der Meister und sein Geschöpf. James Clarke als Rabbi Löw (rechts) und Martin Gerke als Golem.

© Mike Wolff

"Golem" an der Neuköllner Oper: Der Golem oder Das Märchen vom Menschen 2.0

Eine Entdeckung: Die Neuköllner Oper bringt Nicolae Bretans Oper „Golem“ von 1924 heraus, das erste rumänische Musiktheaterstück. Ein Besuch bei den Proben.

Schmutzige Holzwände, eine kleine Funzel, durch die Decke regnet es herein – ein trauriges Gefängnis, in dem der Golem da haust. „Mach mich endlich zum Menschen!“, bettelt er seinen „Vater“ Rabbi Löw an. Dem ist sichtlich unwohl dabei, als sein Geschöpf ihn mit lehmverschmierten Armen umklammert.

Der Konflikt zwischen dem künstlichen Menschen und seiner Kreatur ist mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Doch diese Szene stammt nicht aus dem berühmten Stummfilm von Paul Wegener, sondern aus einer Oper. Der „Golem“ von 1924 ist hierzulande gänzlich unbekannt, ebenso wie ihr Autor, der aus Siebenbürgen stammende Komponist Nicolae Bretan. Am 11. Juni findet in der Neuköllner Oper die deutsche Erstaufführung des Stückes statt, zu der auch Judit Bretan, die 92-jährige Tochter des Komponisten, aus den USA anreisen wird.

Bernhard Glocksin von der Neuköllner Oper war begeistert, als er auf "Golem" stieß

Das Berliner Opernhaus will damit ganz bewusst einen blinden Fleck auf der Musiklandkarte erkunden: „Was wissen wir eigentlich von rumänischer Oper?“, fragt Bernhard Glocksin, Künstlerischer Leiter der Neuköllner Oper. Also gingen sie auf die Suche. Glocksin war begeistert, als er auf Bretans „Golem“ stieß. „Hier kann man einen rumänischen Tschaikowsky entdecken!“, schwärmt der Dramaturg und macht auf die stilistischen Parallelen zwischen den Komponisten aufmerksam.

Wer Rachmaninow, Puccini und eben Tschaikowsky liebe, werde am „Golem“ seine Freude haben. „Es ist eine spätromantische, große Oper, man hört gleichzeitig die russische Seele und italienischen Cantabile-Schmelz heraus“. In der Tat ist die Musik sehr lyrisch und zum Teil cineastisch effektvoll. Süß schmeichelnde Violinen erinnern zugleich an mediterrane, slawische und jiddische Melodien. Golem-Darsteller Martin Gerke macht es Spaß, das zu singen: „Man merkt, dass Bretan selber Bariton-Sänger war und für die Stimme komponiert hat.“

Mach' mich zum Menschen! Martin Gerke als Golem, James Clark (sitzend) als Rabbi Löw.
Mach' mich zum Menschen! Martin Gerke als Golem, James Clark (sitzend) als Rabbi Löw.

© Mike Wolff

Tatsächlich startete der 1887 geborene Sohn eines rumänischen Hotelmanagers nach seinem Musikstudium in Wien und Budapest eine Sängerkarriere. Bretan kann viele Erfolge feiern, unter anderem als Scarpia in „Tosca“ oder als Figaro im „Barbier von Sevilla“. Auch in Berlin zeigt man sich 1913 interessiert, doch Bretan schafft es nicht zum Vorsingen: Er kann sein Hotelzimmer nicht mehr bezahlen. Obwohl er sich in fast allen Sparten des Musikbetriebs erfolgreich betätigt – als Komponist, Sänger, Regisseur, Dirigent und Operndirektor –, leidet er an chronischem Geldmangel. Zeitlebens kann sich Bretan kein eigenes Klavier leisten, die Partitur für den „Golem“ schreibt er 1923 am Instrument eines befreundeten Dirigenten.

Kurz zuvor hatte er ein Theaterstück über die Legende gesehen; der Stoff fasziniert ihn. Wie im Rausch komponiert er die Musik innerhalb von neun Tagen, die Uraufführung 1924 ist ein künstlerischer Erfolg, aber kein finanzieller. Bretan wird mit 1371 Lei abgespeist – gerade ausreichend, um die Papier- und Schreibkosten zu decken.

Martin Gerke verkörpert einen überaus menschlichen Golem

Nur eine einzige westeuropäische Aufführung des „Golem“ gab es bislang, 1992 im schweizerischen St. Gallen. Auf den ersten Blick scheint das Stück also völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Eine nie in Deutschland aufgeführte Oper eines unbekannten Komponisten über eine hunderte Jahre alte, jüdische Legende – ob das ankommt beim Berliner Opern-Publikum? „Es ist ein Wagnis“, räumt Glocksin ein, weist jedoch auf die vielen modernen Fragestellungen des Stückes hin. Im Grunde handelt es sich um ein Science-FictionDrama über die Frage nach künstlicher Intelligenz, die Verantwortung des Wissenschaftlers und die ethischen Grenzen von Technik und Fortschritt. Denn die eigentliche Legende vom Golem setzt Bretans Werk als bekannt voraus, es konzentriert sich ganz auf den moralischen Konflikt zwischen dem künstlichen Wesen und seinem Schöpfer. Nachdem sich der Golem in Löws Tochter Anna verliebt hat, fordert er den Rabbi auf, ihn zeugungsfähig zu machen – doch der weigert sich. „Dann soll sterben dein Geschlecht!“, donnert der Golem dem verzweifelten Löw seinen Fluch entgegen, der in der Neuköllner Oper von dem Verdi-Veteranen James Clark gespielt wird.

Martin Gerke verkörpert einen überaus menschlichen Golem, die leidenschaftlichste Figur der Oper. Ein schmutziger Arbeiter mit großer Seele, während der Rabbi im weißen Anzug wie ein Gutsherr daherkommt. Auch die nebeneinanderliegenden Räume – die triste Kammer des Golems, die saubere, gutbürgerliche Stube Löws – unterstreichen die Kluft zwischen Mensch und Maschine.

Neben dem modernen Bühnenbild, bei dem auch Live-Video-Projektionen zum Einsatz kommen, gibt es eine wesentliche Änderung der Vorlage. In Absprache mit Bretans Tochter wird nicht die Original-Partitur für großes Orchester aufgeführt, sondern eine Fassung für Kammerorchester. Für die reduzierte Version zeichnet Arrangeur Tobias Schwencke verantwortlich, der 2008 bereits Puccinis „La Bohème“ erfolgreich verschlankte.

Das Libretto hingegen konnte unverändert übernommen werden, denn Bretan schrieb alle seine sechs Opern und über 200 Lieder nicht nur auf Rumänisch und Ungarisch, sondern auch auf Deutsch. Die wechselhafte Geschichte Siebenbürgens machte ihn zum Kosmopoliten wider Willen: Mal gehörte Bretans Heimat zu Österreich, dann zu Ungarn, dann wieder zu Rumänien. Dreisprachig aufgewachsen, unterschrieb er je nach Bedarf mit „Nicolae“, „Miklós“ oder „Nikolaus“. Allerdings blieb das Rumänische doch am wichtigsten für ihn – mit „Luceafarul“ schuf Bretan gar die erste rumänische Oper überhaupt. Wären ihm die Kriege und der Kommunismus nicht dazwischengekommen, seine Zeitgenossen hätten ihn wohl als bedeutenden Nationalkomponisten gefeiert.

Vielleicht wird Nicolae Bretan an der Neuköllner Oper nun endlich die überfällige Anerkennung zuteil

Nach dem Zweiten Weltkrieg leitet Bretan zunächst die Rumänische Nationaloper in Cluj. Aber da er nicht Mitglied der Kommunistischen Partei werden will, wird er schon 1948 wieder entlassen. Er erhält Aufführungsverbot, sein letztes musikalisches Lebenszeichen datiert auf 1955: ein Requiem, bei dessen Uraufführung der Komponist selber den Bariton-Part singt. Er starb 1968 in Cluj.

So wird Nicolae Bretan mit der Aufführung an der Neuköllner Oper womöglich endlich die Anerkennung zuteil, die er zu Lebzeiten entbehren musste. James Clark hat jedenfalls keine Angst vor einem Flop: „Wie viele moderne Opern gibt es, die einmal gespielt werden und dann sind sie wieder weg und man hat keinen Ohrwurm davon“, so der amerikanische Tenor. ! Der „Golem“, verspricht er, hat zahlreiche Ohrwürmer.

Neuköllner Oper, Premiere am 11. Juni. Weitere Aufführungen am 13., 14., 18. – 21., 25. – 28. Juni und 2. – 5. Juli, jeweils 20 Uhr

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