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Kultur: Google 1704

Wissen ist Wandel: Vor 300 Jahren erschien zur Leipziger Buchmesse das erste „Zeitungslexikon“

Unter den zahlreichen Publikationen, die vor 300 Jahren zur Leipziger Buchmesse erschienen, befindet sich auch ein auf den ersten Blick unscheinbares einbändiges Werk, das jedoch ein Meilenstein der Buch- und Geistesgeschichte bedeutet. Ostern 1704 wurde zum ersten Mal ein Bestseller des 18. Jahrhunderts veröffentlicht: das „Reale Staats- und Zeitungs-Lexicon“. Verfasst wurde es von dem Gelehrten und Schriftsteller Philipp Balthasar Sinold von Schütz. Üblicherweise wird es aber nach dem Verfasser der Vorrede, Johann Hübner, benannt, der damals Rektor des Gymnasiums in Merseburg war. Die ausführliche Titelseite erläutert, das Lexikon solle nicht nur „Gelehrten“, sondern auch „Ungelehrten“ ein Hilfsmittel beim Lesen der Zeitungen und für die „tägliche Conversation“ bieten.

Dies war eine kleine Revolution: Wissenskompendien für den akademischen Gebrauch gab es schon lange, doch anders als die frühen Universal-Enzyklopädien (etwa Pierre Bayles „Dictionaire“ von 1697) richtet sich das Zeitungslexikon – so die Vorrede – auch an Leser, „die mit den Musen keine sonderliche Bekanntschafft haben“. Zum ersten Mal im deutschen Sprachraum bietet ein Nachschlagewerk in handlichem Format mit knapp gehaltenen, alphabetisch angeordneten Artikeln Informationen zu einer Vielzahl von Sachgebieten. Johann Hübner erhebt den Anspruch, von allen Begriffen „eine kurtze, aber doch deutliche und zulängliche Beschreibung“ zu liefern – auch für solche Personen, die nicht „studiret“ haben.

Vom friesischen Flüsschen Aa bis Zytomiers, einer „Stadt in Ober-Volhynien“ (Schitomir in der heutigen Ukraine), erhält der Leser Informationen über so unterschiedliche Dinge wie die Vergadderung beim Militär oder darüber, was eine Cabale „in Staats-Sachen“ bedeutet. Jevern, eine „Stadt und Herrschafft in der Graffschafft Oldenburg“, wird ebenso definiert wie Magadoxo, „ein großes Königreich in Africa“. Der Hübner bedient also das Bedürfnis des neu entstehenden Lesepublikums der Aufklärung nach allgemein verständlichem, breitgefächertem Wissen, das praktisch nutzbar ist und überdies das gesellige Gespräch ermöglicht. Was man wissen muss, wird jetzt als wandelbar betrachtet und bedarf der schnellen Aktualisierung. So betont denn auch „Die allerneueste Auflage“ des Hübner 1759 bereits auf der Titelseite, dass „alles, was sich in Publicis, Geographicis, Genealogicis und anderen Stücken verändert, bis auf gegenwärtige Zeit fleißig angemerkt“ sei.

Insgesamt brachte es das Hübnersche Zeitungslexikon auf 31 Auflagen und stellt somit, obwohl im Laufe des 18. Jahrhunderts schließlich auch andere populäre Lexika auf dem Markt kamen, das erfolgreichste Werk seiner Art dar. Von Goethe ist bekannt, dass er die 1789 erschienene Ausgabe benutzte. Etliche Exemplare des Lexikons finden sich heute noch in großen deutschen Bibliotheken. 1972 erschien ein Nachdruck der Erstauflage bei Herbert Lang in Bern, 1980 beim Stuttgarter Fackelverlag ein Faksimile der Ausgabe von 1759. Als der Hübner 1825 zum letzten Mal erschien, war schon das Zeitalter der vielbändigen Konversationslexika angebrochen, der Umfang des Wissenswerten sprengte jetzt das kleine – zuletzt dreibändige – Zeitungslexikon. Doch ist es mit seinem Streben nach Aktualisierung und seinem Anspruch, Wissen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Wegbereiter der großen Lexika des 19. Jahrhunderts. Auch in anderer Hinsicht ist das Hübnersche Werk hier Vorläufer, denn bereits ab der vierten Auflage von 1709 trug es zusätzlich die Bezeichnung Conversationslexicon. Der Leipziger Privatgelehrte Renatus Gotthelf Löbel übernahm sie für sein ab 1796 erschienenes mehrbändiges Lexikon, das 1808 – unvollendet – von Friedrich Arnold Brockhaus erworben wurde. Das bisher erfolglose Werk wurde unter der Ägide von Brockhaus ein Verkaufsschlager.

„Konversationslexikon“ wird schließlich zum Synonym für die deutschsprachigen Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts. Dem Brockhaus folgt 1840-55 die erste Auflage des Meyer, 1854 erscheint zum ersten Mal der Herder. Die Bezeichnung der Werke – Zeitungslexikon oder Konversationslexikon – mag heute antiquiert klingen. Ihre aufklärerische Maxime jedoch, dem zeitgenössischen Lesepublikum aktuelles und relevantes Wissen zugänglich zu machen, bleibt bis heute der Leitfaden aller lexikographischen Unternehmungen.

Karsten Behrndt

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