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Kultur: Google, hupf!

Das amerikanische Medienunternehmen träumt davon, im Internet eine neue Bibliothek von Alexandria zu errichten

Von Gregor Dotzauer

Für Leser, Studenten und Rechercheure aller Art ist das Projekt ein Traum: Gib einen Suchbegriff ein – und finde alle Bücher, in denen er eine Rolle spielt. Ein Albtraum dagegen ist es für manche Autoren und Verleger. Der deutsche Protest gegen Google Print (http://print.google.de) ließ jedenfalls nicht auf sich warten. Unmittelbar nach dem europäischen Start zur Frankfurter Buchmesse erklärte das PEN-Zentrum, die massenhafte Digitalisierung gedruckter Bücher, wie sie Google seit längerem in den USA betreibt, sei eine „kalte Enteignung“ der Autoren. Und die Arglosigkeit, mit der der Deutsche Bibliotheksverband die Pläne beobachte, sei ein zusätzliches Ärgernis.

Google Print verbindet ein Verlags- und ein Bibliotheksprogramm, das es ermöglicht, den vollständigen Text eingescannter Bücher zu durchsuchen: bei urheberrechtsfreien Titeln mit der Möglichkeit, das ganze Buch am Bildschirm zu durchblättern; bei Titeln, die dem Copyright unterliegen, es passagen- oder zeilenweise einzusehen oder gar nur Blindverweise mit Seitenangabe zu erhalten. Bei Interesse kann das betreffende Buch online bestellt werden.

Über den sichtbaren Textumfang entscheiden die Verlage, die ihre Bücher bei Google kostenlos digitalisieren lassen können. Für die bisher fünf teilnehmenden Bibliotheken, die Scankopien für den eigenen Bedarf erhalten, trägt Google die Sorge um das jeweilige Copyright. Dazu gehört auch Harvard, die mit rund 15 Millionen Bänden größte Universitätsbibliothek der Welt. Was den Verlagen als Marketinginstrument angepriesen wird, soll Google ein Publikum – also Werbekunden für die Anzeigen rund um die Suchergebnisse – erschließen, dem die reine Webseiten-Recherche zu dürftig war.

In den USA gibt es nicht weniger Ärger, seitdem die Authors Guild und die Association of American Publishers gegen Google klagen. Wie sehr der Streit symbolisch aufgeladen ist, lässt sich nicht nur mit Blick auf die Ankündigung des Google Content Partnerships Director Jim Gerber erklären, er wolle „einen virtuellen Katalog aller Bücher in allen Sprachen erstellen“: eine neue Bibliothek von Alexandria. Es hängt vor allem mit Googles Marktmacht zusammen. Mit 80 Milliarden Dollar war Google zum Börsenstart im vergangenen Jahr das höchstbewertete Medienunternehmen der Welt – auch wenn es im Vergleich zum Branchenzweiten, dem Time Warner Konzern, mit 3,2 Milliarden Dollar nicht einmal ein Zehntel des Umsatzes machte.

Das Bemühen, Google nicht allein das Feld zu überlassen, hat viele Initiativen hervorgebracht. Yahoo kündigt an, in Zusammenarbeit mit der University of California ein Gegenprojekt zu starten (www.opencontentalliance.org). Und Microsoft will nächstes Jahr den MSN Book Search vorstellen und der Alliance ebenfalls beitreten. Auch die Europäer sind nicht faul. Im Juni 2004 hat die European Library (www.europeanlibrary.org), ein Zusammenschluss von bisher neun Nationalbibliotheken, die Arbeit aufgenommen. Am 10. November verabschiedet der deutsche Börsenverein aller Voraussicht nach ein eigenes Digitalisierungsprojekt mit dem Titel „Volltextsuche online“. Und im Dezember soll ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Portal digitalisierter Drucke (www.zvdd.de) starten, das die verstreuten Scan-Archive zusammenführt.

Wie immer man den Digitalisierungswettlauf bewertet: Die Aufmerksamkeit für Google Print steht in einem krassen Missverhältnis zur Aufmerksamkeit für die längst schon bestehenden Recherchemöglichkeiten. Vielleicht ist sie aber ein guter Anlass, sich das Ausmaß des gegenwärtigen Kulturumbruchs vor Augen zu führen. Dazu drei Thesen – und ihre jeweilige Gegenthese.

1) Das menschliche Wissen wird monopolisiert. Die Gefahr, die von Google ausgeht, lässt sich mit dem Print-Programm allein nicht begründen; es ist nur ein Baustein zur Kanalisierung des Weltwissens. Und: Das unübersichtliche Ding funktioniert nicht richtig. Klaus Graf hat eine lange Liste (http://wiki.netbib.de/coma/GooglePrint) von Merkwürdigkeiten zusammengestellt – mit Tipps zu deren Überwindung: Noch sind viele Public-Domain- Titel für deutsche Nutzer blockiert. Die Gefahr der Monopolisierung entsteht erst durch Zusatzprogramme, die alle Bereiche des Lebens erfassen: Google Base als Gegenprodukt zu E-Bay und Google Local als eine Art Gelber Seiten mit Stadtplandienst. Weite Bereiche des wissenschaftlichen Publizierens sind immerhin auf den Angriff von Google Print vorbereitet. Der Heidelberger Springer-Verlag (www.springerlink.com), der Amsterdamer Elsevier-Konzern (www.elsevier.com) oder das deutsche Zeitschriftenportal www.digizeitschriften.de decken mit ihren kostenpflichtigen Online-Angeboten alle Fächer ab.

Was Gratisangebote betrifft, ist Europa auch literarisch weiträumig digitalisiert. Es gilt für die Klassiker der französischen Bibliothèque Nationale (http://gallica.bnf.fr) mit Scans von Charles Baudelaire oder Marcel Proust wie für die ungarische Digitális Irodalmi Akadémia (www.irodalmiakademia.hu), die auch aktuelle Titel von Péter Esterházy oder László Krasznahorkai zugänglich macht. Nicht einmal auf Google trifft aber der Vorwurf zu, den Jean-Noël Jeanneney, Präsident der französischen Nationalbibliothek, erhoben hat: dass es eine angelsächsische Wissenshegemonie geben werde. Dazu ist auch Harvard mit europäischen Titeln zu gut bestückt.

Es geht um eine Verlagerung allen Wissens ins Internet. Denn was mittelfristig nicht wenigstens im Netz nachgewiesen wird, gibt es langfristig überhaupt nicht mehr. Es wird, sagt Elmar Mittler, Direktor der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek, vergessen sein: Jeder Tag, an dem wir Europäer die Digitalisierung nicht vorantreiben, während Google in den Staaten seine Scanner heißlaufen lässt, ist deshalb ein verlorener Tag.

Gegenthese: Das menschliche Wissen wird demokratisiert. Kann sich noch jemand vorstellen, wie mühsam es war, sich durch Schlagwort-Zettelkästen zu wühlen oder an einen Zeitungsartikel zu gelangen, wenn man keinen Freund hatte, der für einen ins redaktionelle Klebearchiv hinabstieg? Ist es nicht ein Zeichen öffentlicher Transparenz, wenn Unternehmen im Internet die Namen ihrer Vorstände auflisten, Umsatzzahlen und Tochtergesellschaften preisgeben? Hat es nicht etwas Menschenfreundliches, wenn man sich lange nach Mitternacht online mit Lao-Tses Weisheiten trösten oder mit Therapieinformationen zu Herzbeklemmungen versorgen kann? Das Problem ist, dass gleichzeitig die Fähigkeit zum verstehenden Lesen abnimmt. Die Informationsflut führt zu einer Textverwurstung nach Copy-and-Paste-Muster. Studenten neigen dazu, mit überholten Ausgaben zu arbeiten. Denn rechtefrei und kostenlos verfügbar ist immer nur der Originaltext. Editorisch erschlossene Werke, die manchmal unverzichtbare Kommentare enthalten, zählen nicht dazu. In den Geisteswissenschaften mögen die Konsequenzen verzeihlich sein, in den Naturwissenschaften sind sie ärgerlich. Matthias Ulmer, Taskforce-Leiter der „Volltextsuche online“ und Chef des Stuttgarter Verlages Ulmer mit Fachbüchern zu Gartenbau, Landwirtschaft und Natur, sieht seit Jahren zu, wie sich die botanische Nomenklatur ständig ändert, ohne dass das Netz dem Rechnung trägt. Wir laufen Gefahr, dass nur Gratiswissen tradiert wird.

2) Der Autor ist der Leidtragende. William Shakespeare oder Franz Kafka haben nichts mehr zu verlieren, höchstens die Verlage, die mit Editionen freier Titel Geld verdienen und damit auch lebende Autoren finanzieren. Und deren Werk? Es ist gut möglich, dass sich eine Seminararbeit fleißig bei einem online stibitzten Vorwort bedient oder ein Computer-Problem schon mit Hilfe eines Handbuch-Ausschnitts lösbar wird. Nur: Was unterscheidet die Netzlektüre vom Schmökern im Buchladen nebenan? Die Scans von Google Print lassen sich weder kopieren und in eigene Dokumente einfügen noch ausdrucken. Und es ist genauso möglich, dass sie einen Kaufimpuls auslösen oder den Wunsch, das Buch zu leihen. Amazon gleicht mit seinem „Search inside the book“-Service, der Probeseiten und eine Volltextsuche umfasst, genau diesen Nachteil gegenüber dem stationären Buchhandel aus. Was nun die Sorglosigkeiten im Umgang mit Autorenrechten betrifft, weist Elmar Mittler darauf hin, dass Elsevier, mit www.sciencedirect.com der weltgrößte Internetverleger, es weitaus schlimmer treibe als Google. Für Informationen von vor 1996 fließe kein Cent an die Autoren. Sie konnten damals noch keine Verträge über die digitale Nutzung schließen.

Gegenthese: Der Autor ist der Gewinner. Je entlegener ein Titel ist, desto eher findet via Netz ein Buch zum Leser. Weil Amazon Kleinverlage de facto ausschließt, überlegen vor allem sie, wie sie ihren Büchern eine Öffentlichkeit verschaffen können. Die Buchhandlungen fahren die Breite ihres Angebots zurück. Die Zeitungen verringern ihre Rezensionen. Print-Anzeigen sind unbezahlbar und von zweifelhaftem Nutzen. Kataloge und Mailings erreichen nur einen festen Kundenkreis. Das Netz ist da ein ideales Marketingtool und die Konsequenz, physische Lagerbestände abzubauen und Print- on-Demand-Aufträge anzunehmen nur logisch.

3) Kultur braucht Erinnerung. Es kann nicht sein, dass ein alchimistisches Lehrbuch entsorgt wird, nur weil sich bis heute aus Katzendreck kein Gold herstellen lässt. Als historisches Dokument ist es von Belang. Wer ein reines Vermarktungsinteresse an Büchern hat, kann an der Archivierung fragwürdigen, überholten oder schlicht falsifizierten Wissens kein Interesse haben. Auch deshalb sind, wie Elmar Mittler erklärt, public-private partnerships unverzichtbar.

Gegenthese: Kultur braucht das Vergessen . Die Regale der Bibliotheken, wünscht sich der Verleger Matthias Ulmer, sollen sich wieder leeren. Denn es gibt, sagt er, eine natürliche Evolution des Wissens. Das bleibt wohl ein Traum. Was Georg Simmel „Die Tragödie der Kultur“ genannt hat, das Aufeinandertreffen des neuen, lebendigen Gedankens auf den bereits objektivierten Geist, wird durch das Netz noch intensiviert. Google erspart einem zwar das Starren in täglich tiefer werdende Regalschluchten – den Schwindel, der einen beim reinen Blick auf die Trefferzahl einer Google-Suche befallen kann, erspart es einem nicht.

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