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Kultur: Gottes Werk und Rattles Beitrag

Musikfest Berlin (1): Hupperts Sprechgesang

Vorne spielt die Musik? Von wegen! Bei Jonathan Harveys „Madonna of Winter and Spring“ kommen die Töne von allen Seiten. Unvermittelt lösen sich immer wieder einzelne Klänge aus dem Orchestergeschehen, um über die Lautsprecher durch den offenen Raum zu schießen. Das Wabern und Klingeln, Zirpen, Knarren und Rauschen ist überall und nirgends, der Sound flitzt im Saal hin und her, mal erzeugt von akustischen Instrumenten, mal vom Synthesizer. Die Philharmonie ist der ideale Ort für diese Komposition: So, wie in Scharouns Architektur die Zentralperspektive aufgehoben ist, gibt Harvey die lineare Entwicklung der Musik auf zugunsten kreiselnder, in alle Richtungen ausgreifender akustischer Bewegungen.

Dass es dabei überirdisch zugeht, dass die Klänge schon mal from outer space zu kommen scheinen, ergibt sich aus dem religiösen Thema. Den „sanften, unaufdringlichen Einfluss“ der Mutter Gottes „auf energische, brutale oder mutlose Kräfte“ will Harvey untersuchen.

So undogmatisch, wie er den Marienkult betrachtet, geht der 1939 geborene Brite auch beim Komponieren vor, ersetzt das System der traditionellen Tonalität nicht durch eine neue Doktrin, sondern befreit es vielmehr von aller Gebundenheit, entlässt die Klänge ins Freie. Das ist Neue Musik, wie Simon Rattle sie liebt. Mit weitem Herzen und den phänomenalen Berliner Philharmonikern an seiner Seite lässt er beim „Musikfest Berlin 06“ Harveys „Madonna of Winter and Spring“ zur beglückenden Reise in die unendlichen Weiten des Welthalls werden.

Die meisten Besucher sind an diesem ausverkauften Abend allerdings gekommen, um Isabelle Huppert zu erleben. Aus der Sprechrolle in Igor Strawinskys Tanzmelodram „Perséphone“ jedoch vermag selbst die größte Schauspielerin keine Funken zu schlagen. Die Geschichte von der blühenden Halbgöttin, die vom Höllenfürsten Pluto verschleppt wird, woraufhin auf Erden der Winter ausbricht, geriet André Gide 1933 zur prätenziösen Antikenparaphrase.

Süßlich säuseln die verlorenen Seelen und das Landvolk, die Protagonistin stakst in gespreiztem Sprechgesang durch das blutleere Drama, dem Strawinsky einen inspirationslos geknüpften Klangteppich ausrollt. Huppert, der Tenor Toby Spence, die Philharmoniker, der Rundfunkchor Berlin sowie die Knaben des Staats- und Domchores folgen Rattle mit professioneller Höflichkeit durch die kostspielige Aufführung – was den Dirigenten an dieser blassen art décoratif interessiert, bleibt bis zum Schlussakkord unergründlich.

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