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Kultur: Graf Unverzagt

Unerhörter Dirigent: Nikolaus Harnoncourt war immer ein radikaler Erneuerer und verweigerte sich der klassischen Musikszene. Heute umarmt sie ihn dafür.

Salzburger Festspiele 2002. Eröffnungspremiere mit Mozarts „Don Giovanni“ unter Nikolaus Harnoncourt. „Sola, sola in biuo loco…“: Allein, allein an dunklem Ort / fühl mein Herz ich furchtsam schlagen, / es erfasst mich tiefes Grauen, / dass vor Angst ich fast vergeh’. So beginnt das Sextett des zweiten Aktes, das musikalisch wie textlich zum Schlüssel der Aufführung gerät. Die Figuren werden unter dem Pochen einer leisen, unerbittlichen Herzrhythmusstörung gleichsam zerlegt, in ihre Bestandteile zerrieben, entindividualisiert. Was bleibt, sind Schmerz-, Lust-, Angst- und Begehrensfetzen. Ohne Antwort, ohne Echo, stammelnd, richtungslos, freigesetzt im luftleeren Raum. Es gibt keine Handlung mehr, es werden keine Einzelgeschichten mehr erzählt. Die menschliche Stimme verglüht im Dunkeln. Überhaupt: Nie war in dieser Oper das Dunkel, die Nacht, das Ende spürbarer. Als wäre die Sonne erloschen, als wär’s mit uns vorbei. Dass vor Angst ich fast vergeh’.

Nichts in der Musik ist nach diesem „Don Giovanni“ mehr so, wie es war. Die gesamte Mozart-Rezeption scheint außer Kraft gesetzt. Nie Gehörtes wurde hier dem auditiven Gedächtnis der Welt überantwortet. Zu hören war die erste musikalische Interpretation des neuen Jahrtausends: erschreckend, monolithisch, unzugänglich, rätselhaft. Das war keine Auslegung, keine Ausdeutung eines bekannten Notentextes im bekannten Sinne. Hier ereignete sich etwas Neues, nie Dagewesenes, etwas schier Unverständliches. Das Kunstwerk entzog sich seinen eigenen Parametern. Und Harnoncourt, der damit begonnen hatte, aller komponierten Musik die Rhetorik, die ihr innewohnende „Klangrede“ abzulauschen und diese hörbar zu machen, verstummte plötzlich. Harnoncourt, der erklärte Widersacher des einst (und gerade in Salzburg!) alles beherrschenden Herbert von Karajan, Harnoncourt, der Archäologe und Querdenker, er verweigerte sich – wie von innen heraus.

Ein Künstler, ein Musiker, der es immer ganz genau wissen wollte und immer ganz genau wusste, erklärt, erfindet sich mit 73 Jahren also noch einmal anders, noch einmal neu. Ein Abschied? Ein Vorstoß?

Dabei hat Harnoncourt alles erreicht. Seine Ehrendoktortitel zählt niemand mehr; sein Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern 2001 wurde als eines der größten Global-Events in der so genannten E-Musik gehandelt, mit mehreren hunderttausend verkauften Tonträgern, registriert ganz oben selbst in den Pop-Charts; und auch sein jüngster Grammy-Award oder der mit 150000 Euro dotierte Siemens-Musikpreis 2002 sagen es gerade heraus: Harnoncourt ist einer der Stars der Branche, wenn nicht der Star schlechthin. Die Berliner Philharmonie, die New Yorker Carnegie Hall, der Musikverein in Wien, das Zürcher Opernhaus – das sind längst beliebig wählbare Podien für einen, der sich genau diesem Betrieb mit all seinen kommerziellen Verflechtungen und Aufstiegsritualen einst angewidert entzog.

Der Außenseiter als Galionsfigur, der Anarchist als gehätscheltes Maskottchen eines ausblutenden, seiner Inhalte mehr und mehr verlustig gehenden Metiers?

Ein zorniges Kind

Begonnen hatte Nikolaus Harnoncourt – geboren am 6. Dezember 1929 in Berlin, aufgewachsen in Graz – Anfang der 50er Jahre als Cellist bei den Wiener Symphonikern. Ein ebenso günstiger wie ungünstiger Zeitpunkt. Günstig, weil sich nach den Exzessen des nationalsozialistischen Musikmissbrauchs vieles noch unschuldig, vieles neu anfühlte; ungünstig, weil eben jener Missbrauch mit dafür verantwortlich zu machen ist, dass die klassische Musik in den nachfolgenden Jahrzehnten mehr und mehr zum unverbindlichen, jeder Identität beraubten Konsumartikel verkam. Aus dem Kulturgut Musik wurde der Musikbetrieb, an die Stelle des erlebten Augenblicks und der Transzendenz trat – aus Angst vor neuerlichem Missbrauch und neuerlicher Ideologisierung – die Messbarkeit: Wer die künstlerische Leistung nach Verkaufszahlen beurteilt, der handelt zunächst unverdächtig, weil marktwirtschaftlich und quasi demokratisch.

Und das gilt bis heute. Musik als Ware, Musik als unschwer zu erringendes Lust- und Tauschobjekt – schöner, verlockender lag nicht einmal Richard Wagners Brünnhilde vor Held Siegfried auf dem Feuerbett.

Harnoncourts reflexartige Antwort war die Verweigerung. In den österreichischen Hochadel hineingeboren (väterlicherseits aus luxemburgisch-lothringischem Urgeschlecht stammend, mütterlicherseits mit dem Hause Habsburg verwandt), entwickelte Johannes Nikolaus de la Fontaine Graf d’Harnoncourt-Unverzagt früh eine Aversion gegen alles Hierarchische und Autoritäre. Er sei ein sehr zorniges Kind gewesen, heißt es, und habe sich geschworen, niemals etwas zu tun, was er nicht tun wollte. So tat er denn, was ihm blieb, wollte er den Zeitzeichen zum Trotz als musikmachender Künstler weiterexistieren: Er begann von vorne. Und zwar buchstäblich und im Wortsinne von vorn und das auf sämtlichen Gebieten: sprachlich, in der Notation, der Artikulation, der Spieltechnik, dem Klang, der Zeit. Die lag irgendwo um das Jahr 1300 herum, in der Musik des Papsthofes von Avignon.

Nie zuvor hat ein Künstler, ein Musiker diesen Neuanfang so radikal gewagt. Und Harnoncourts Entdeckungen auf seinem Weg in die entgegengesetzte Richtung waren und sind phänomenal, verwirrend, beunruhigend – vor allem für den Mainstream, gegen den er schwimmen musste, wollte er wirklich zu den Quellen gelangen. Ihm war nichts heilig, ihm galt selbst das Wort Gustav Mahlers, dass Tradition nur Schlamperei sei, noch als verbindlicher Konversations-Austriazismus. Ein Extremist setzt sich aus. Ein Extremist setzt sich durch?

Festzuhalten ist: Nikolaus Harnoncourt wurde zum verhöhntesten, belächeltsten und bekämpftesten Künstler, dem es je gelungen ist, nicht durch die Institutionen, sondern an denselben vorbei zum Ziel zu gelangen. Ein Ziel, das er mit seinem Salzburger „Don Giovanni“ nun allerdings endgültig als obsolet gewordene Konvention bloßgestellt hat. Der Extremist als Masochist? Und geht das überhaupt: an den Institutionen vorbei deren höchste Ritterschläge empfangen?

Rückblende, 60er Jahre. Die Basilika des Stiftes Niederaltaich an der Donau. Eine barocke Oberkirche. Der von Harnoncourt 1953 gegründete Concentus Musicus Wien, ein so genanntes Originalklangensemble, spielt Bach, Violinkonzerte. In der Erinnerung vor allem das in E-Dur mit Alice Harnoncourt, seiner Frau, als phänomenaler Solistin. Das ist die Zeit, in der Karl Richter mit seinem Münchner Bachchor und seinem Münchner Bachorchester das Nonplusultra aller Bach-Interpretation verkörperte. Johann Sebastian Bach, das bedeutete zuallererst: Richters Bach. Der romantisierende Geist des 19. Jahrhunderts. Niederaltaich aber hieß: Barockmusik im offenen Widerspruch zu der sie umgebenden Architektur. Dunkle Tanzweisen, die den überbordenden Kirchenstuck unterspülten, aushöhlten; geatmete Melodien, die an den protzigen Säulen römisch-katholischer Selbstbehauptung zu zerschellen drohten, und diese – gleichsam protestantisch aufgeklärt, gleichsam befreit – doch überstrahlten. Das war eine musikalische Sprache, die sich allem Wohlklangsbrei entzog. Das war neue alte Musik, die einen Schock auslöste.

Stets ist das aufgeführte Werk bei Harnoncourt das letzte, das neueste und „modernste“, das sich denken, erforschen und spielen lässt. Jedes Werk eine Uraufführung. Und das gilt auch für seine künstlerische Biografie bei den Salzburger Festpielen seit 1991: Zunächst in der Aufbruchs-Ära von Gerard Mortier (mit Beethovens „Missa solemnis“, mit Monteverdis „Marienvesper“ und „Krönung der Poppea“, mit Mozarts „Figaro“), jetzt auch unter der Intendanz von Peter Ruzicka, der ihn für einen Mozart-Zyklus zurückholte, an der Seite des jungen österreichischen Regisseurs Martin Kusej (auf den gemeinsamen „Don Giovanni“ wird 2003 „La clemenza di Tito“ folgen).

Wie gesagt: Wiedergefundene Musik war plötzlich da . Und je größer die Gruppe derer wurde, die auf jenes Wiedergefundene, Wiedererweckte nicht länger verzichten wollten, desto aggressiver gebärdeten sich die Verneiner, die Ablehner und Verhinderer – kurz: die so genannten Traditionalisten. Allen voran namhafte Dirigenten und Orchester, begleitet von einer Entourage aus Musikwissenschaftlern und Kritikern, in deren Musikbetrachtung die Harnoncourtschen Lesarten wie Blitze einschlagen mussten. Wie Erdbeben, die bekanntes Terrain wegrissen und mit Kratern durchzogen.

Wir sind hier in Wien!

Wütende „Befestigungsmaßnahmen“ waren die Folge: Die Herren Wiener Philharmoniker etwa schlugen sich 1989 während der Festwochen-Premiere von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ im Theater an der Wien in einem beispiellosen Akt öffentlicher Unsolidarität auf die Seite jenes Publikums („Wir sind hier in Wien!“), das Harnoncourt wild aufgebracht ausbuhte. Und noch Anfang der 90er Jahre verordnete der Vorstand eben jener Philharmoniker dem Dirigenten in ironisch-belehrendem Ton eine „Zwangspause“ vom Orchester. Harnoncourt selbst wiederum hielt es bis 1994 für vollkommen ausgeschlossen, dass er jemals dazu eingeladen würde, das Neujahrskonzert zu dirigieren. Und wird dies am 1. Januar 2003 nun bereits zum zweiten Mal tun.

Was also ist passiert? Woher die Kehrtwende, woher dieser Sinneswandel? Zunächst: Harnoncourt fand Anklang. Seine Ausgrabungen und wiedergeborenen Werke stießen auf ein enormes Echo. Die Menschen des späten 20. Jahrhunderts, von cooler zeitgeistiger Unterhaltung ebenso ermüdet wie gelangweilt, sehnten sich nach dem „musikalischen Dialog“, der die Harnoncourtsche Klangrede ihnen bot. Sie wollten (und wollen) im nivellierenden Massenangebot unterscheiden können – und nichts fördert die Verkaufszahlen so stark wie Unverwechselbarkeit und ein streitbares Profil

Wer sich einmal in Harnoncourts Walzertaumel des Todestanzes am Beginn der Matthäuspassion reißen ließ, dem wird fortan von der an gleicher Stelle aufgeschäumten Masse musikalischer „Starköche“ speiübel. Zuckerwatte verträgt sich eben nicht mit Achterbahnfahren, das weiß jedes Kind. Und genau dieses Kindliche, besser: dieses Unvoreingenommene, Unreglementierte ist es, das Nikolaus Harnoncourt der Musik zurückgegeben hat. Oder, um es mit einem großen Wort zu sagen: Er hat ihr einen Teil ihrer Unschuld, ihrer Würde zurückgegeben. Jetzt ist er also da, preisüberhäuft, und die großen Orchester und Festivals der Welt müssen sich buchstäblich um ihn reißen: Seine Zahlen und Erträge nämlich machen selbst unbequemste musikalische Entdeckungsreisen zu „lohnenden“ Abenteuern. Ein Widerspruch in sich? Gar: Verkauf? Verrat?

Aber auch Harnoncourts Breitenwirkung ist seit langem unübersehbar. Seine Einspielung von Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“löste Anfang der 80er Jahre eine Welle aus, deren Scheitelpunkt noch immer nicht erreicht scheint: Auf ihrem Kamm tummeln sich bis heute renommierte Barockensembles wie Il Giardino Armonico, die Akademie für Alte Musik Berlin, das Concerto Köln, Europa Galante und Le Concert des Nations, um nur einige zu nennen. Auch Dirigenten wie Ton Koopman, Jordi Savall, Mark Minkowski und Simon Rattle beziehen sich immer wieder auf ihn. Ja, er ist da, wie gesagt, Harnoncourt ist angekommen – und mit dem Salzburger „Don Giovanni“ dieses Sommers doch auch schon wieder weg. Aufgebrochen, geflohen in eine Welt jenseits all dessen, was ihn hierher geführt hat.

Der Genabdruck der Gattung

„Sola, sola in biuo loco…“: Allein, allein an dunklem Ort / fühl mein Herz ich furchtsam schlagen, / es erfasst mich tiefes Grauen, / dass vor Angst ich fast vergeh’.

Indem Nikolaus Harnoncourt frei wie ein Barockvirtuose und ohne jeden philosophischen oder weltanschaulichen Über- oder Unterbau jedes Strukturelement, jede Rhythmusverschiebung, jedes Instrument, jede Melodie, jede Stimme der Mozart-Partitur bloßlegt wie einzelne Nervenstränge, entsteht etwas wie aus der Erinnerung heraus. Ein kaum noch sich regendes, leidendes Ganzes. Der Genabdruck einer aussterbenden, vielleicht längst schon gestorbenen Gattung. Wer aber kann, wer will den entschlüsseln? Die Musik, so scheint es, besingt ihr Ende zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz allein.

Im tobenden Umfeld des Opernfinales erklingen die Posaunen dann wie zum ersten und zum letzten Mal. Und war Donna Annas „Abbastanza“-Intervall je weiter, je trostloser zu hören, Don Ottavios „Dalla sua pace“ an den Grenzen der Wahrnehmbarkeit je hilfloser, einsamer? Auch Elviras schmerzlich über den Scheitelklippen angehaltene Achtelläufe in der „Mi tradi“-Arie sind schlichtweg Neuschöpfungen einer, wie es scheint, immer unbekannt gebliebenen Partitur: Fühle noch immer Mitleid mit ihm… Mit wem? Mit Don Giovanni, dem müden Verführer? Mit uns, den zur musikalischen Globalisierung Verdammten? Hier nun endgültig: Auflösung der Taktstriche. Befreiung. Leere. Und großes Rätsel. Ist da noch jemand, der es lösen kann?

Ähnlich war es bei Anton Bruckners Neunter. Verzweifelte Klangschichtungen, Schreie ins Leere, gehalten nur von Walzern und Zwiefachen, Todesländlern am Rande der Auflösung. Oberösterreichische Ethno-Musik als Treibgut auf den Fluten des globalen Musikgeschäfts. Ähnliches auch bei Beethoven, bei Dvorák. Und was würde hörbar, nähme sich Harnoncourt der Musik Wagners umfassend an oder gar der Gustav Mahlers. Es spricht für die Berliner Philharmoniker, dass sie gerade jetzt mit ihm Bachsche Orchestermusik spielten. Wieder ist Harnoncourt an einen Anfang zurückgekehrt, an seinen Anfang: die 60er Jahre, Bach, die so genannte Alte Musik, der so genannte Originalklang.

Auch die „Berliner“ gehen wieder in die Schule: in die der Artikulation, des Klanges und der Zeit. So stehen sie einander gegenüber, der notorische Nestbeschmutzer, Zweifler und Verweigerer unter den Dirigenten des 20. und 21. Jahrhunderts – und das moderne Spitzenorchester. Der Archäologe und die perfekte Klangorgel. Der Anarchist auf dem Luxusliner. Die Zeit der Ideologien ist vorbei, sagt diese Begegnung. Retten wir, was zu retten ist.

Der Autor ist Regisseur und Mitbegründer des Musik-Labels Winter&Winter.

Franz Winter

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