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© Tsp/Bartel

Grand Prix: Der Inkontinent

Loblied und Abgesang, Hymnen und Hürden: Was der Eurovision Song Contest über Europa verrät.

Wo beginnt Europa? Wo endet es? Wer gehört dazu, wer muss leider draußen bleiben? Wer sind wir Europäer – und wenn ja, wie viele? Fragen über Fragen.

Antworten, und nicht die dümmsten, bot bis zum vergangenen Jahr der Eurovision Song Contest. Warum er das in diesem Jahr nicht mehr tut, davon später – bleiben wir zunächst bei den Antworten.

Als diese Woche in Moskau der 54. Song Contest eröffnet wurde, trug sich Bemerkenswertes zu. Die Band Dschinghis Khan, die 1979 für Deutschland einen respektablen 4. Platz errungen hatte, brachte in Moskau zur Feier des Tages noch einmal ihren Erfolgstitel zum Vortrag: „Dsching, Dsching, Dschinghis Khan! / Auf Brüder, sauft Brüder, rauft Brüder, immer wieder! / Lasst noch Wodka holen – hohohoho! / Denn wir sind Mongolen – hahahaha!“

Was Europa angeht, bezieht das Lied seine Definitionskraft ex negativo: Wir sind keine Mongolen – wir tun nur so. Wenn wir auf der Bühne saufen und raufen, dann ist das lustig, weil jeder weiß, dass Europäer so etwas gemeinhin nicht tun. Man kann uns viel vorwerfen, aber Mongolen sind wir nicht.

Halten wir also als erste eurovisionistische Erkenntnis fest: Europäer ist, wer kein Mongole ist.

Weil aber nicht nur die Band Dschinghis Khan, sondern der Europäer generell dazu neigt, sein Selbstbild durch Ausschluss alles Nicht-Europäischen zu konstruieren, lag im Aufführungsort dieser karnevalesken Kontinentabgrenzung eine besondere Pikanterie: Russland, diesjähriger Ausrichter des Song Contest, war mehrere Jahrhunderte lang mongolisch besatzt. Hahahaha! Sind unsere Gastgeber womöglich gar keine Europäer?

Genau diese Frage wurde in den letzten Wochen und Monaten – ach was: Jahrhunderten! – immer wieder aufgeworfen. Fast musste, wer die Grand-Prix-Vorberichterstattung verfolgte, den Eindruck gewinnen, unser kontinentales Liedgut sei in die Hände asiatischer Barbaren gefallen.

Westeuropäische Kommentatoren hatten in den vergangenen Jahren wiederholt gerügt, dass die osteuropäischen Länder sich im Abstimmungsverfahren mafiös Punkte zuschustern. Als Reaktion auf „Proteste bezüglich des Nachbarschafts- und Diasporavotings“ präsentierten die Grand-Prix-Macher eine Regelreform: Ab diesem Jahr fließt das Zuschauervotum nur noch zur Hälfte in die Gesamtwertung ein, den anderen Teil stellen professionelle Länderjurys. Das Wort „Osteuropa“ vermieden die Grand-Prix-Macher – doch wem die Reform angelastet wird, war kaum zu überhören.

Zweite eurovisionistische Erkenntnis: Europäer ist, wer zur Blockbildung neigt.

Wer aber sind eigentlich „die Osteuropäer“? So manches kluge Hirn hat sich an dieser Frage schon erfolglos abgearbeitet. Kann die Antwort heute wirklich noch lauten, dass die Grenze zwischen West- und Osteuropa entlang der Blocklinien des Kalten Krieges verläuft? Wie verhält es sich dann mit den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, das nie Mitglied des Warschauer Pakts war, was ist mit Albanien, das 1968 austrat? Ist das Baltikum osteuropäisch? Was ist mit Georgien, das in letzter Zeit so gerne als westlicher Brückenkopf gegen Russland ausgespielt wird? Wie steht es mit den Ungarn, die keine osteuropäische Sprache sprechen und es lange mit den Österreichern hielten? Was ist mit der Ukraine, deren eine Hälfte Samuel Huntington in „Kampf der Kulturen“ dem „westlichen“ Kulturkreis zuschlägt, während die andere zum „orthodoxen“ gehören soll?

Liegt hier nicht eher ein Wahrnehmungsproblem des Westeuropäers vor, der zwischen den osteuropäischen Ländern schlecht zu differenzieren vermag? Keineswegs stimmt nämlich jeder Osteuropäer für jeden beliebigen anderen ab. Der Balkan mauschelt, das Baltikum schiebt, der Kaukasus kungelt, es glucken die kernslawischen Staaten Russland, Ukraine und Belarus – genau wie auch im Westen etablierte Stimmbündnisse agieren: die Benelux-Mafia, das Skandinavien-Kartell, die romanische Mischpoke. Dass man die östlichen Regionalbündnisse in Westeuropa schlecht auseinanderhalten kann und mit Blick nach Osteuropa nur eine amorphe Mafia wahrnimmt, sagt mehr über den Westen aus als über den Osten.

Dritte Erkenntnis: Europäer ist, wen man in Westeuropa dafür hält.

Letztlich, scheint es, begreifen wir ein Land als umso osteuropäischer, je näher es sich – geografisch oder mental – bei Russland befindet. Die Zivilisation, so des Westens Wahrnehmung, dünnt nach Osten hin aus – und endet kurz vor Moskau. Ironisch ist deshalb, dass die neue Abstimmungsmethode ausgerechnet in dem Jahr in Kraft tritt, in dem der Grand Prix erstmals in Moskau ausgetragen wird. Mancher hämische Kommentator hat schon einen Zusammenhang zwischen dem semidemokratisch reformierten Eurovisions-Regelwerk und den politischen Verhältnissen in Russland unterstellt – womit der Ball höchst unfair an die Osteuropäer zurückgespielt wird, gegen die sich die Regelreform doch eigentlich richtet: Seht her, lautet die Botschaft, nur weil ihr so unreif seid, sind wir gezwungen, unsere schöne Demokratie zu beschneiden.

Bei näherem Hinsehen erweist sich die angebliche Übermacht der Osteuropäer freilich als Mythos. Bezeichnet man – zur hypothetischen Unterscheidung – jene Länder als osteuropäisch, die es vor 1989 mit Marx gehalten haben, dann ergibt sich folgendes Bild: In 53 Grand-Prix-Jahren hat 47 Mal der Westen und sechs Mal der Osten gesiegt. Das liegt natürlich daran, dass die Osteuropäer lange gar nicht teilnehmen durften – doch auch in den letzten zehn Jahren, in denen die These einer Ostverschwörung entstand, hat sich das Kräfteverhältnis nicht unproportional verschoben: Selbst, wer sich der Mühe unterzieht, aus den Abstimmungsergebnissen die Punkte sämtlicher osteuropäischer Länder herauszurechnen, stellt fest, dass die Sieger trotzdem Schweden (1999), Dänemark (2000), Estland (2001), Lettland (2002), Türkei (2003), Griechenland (2005), Finnland (2006) und Serbien (2007) geheißen hätten. Lediglich für zwei Jahre ergeben sich abweichende Wertungen: Hätten 2004 und 2008 nur die Westeuropäer abstimmen dürfen, dann hätten nicht die Ukraine und Russland gewonnen – sondern: Serbien und Armenien.

Vierte Erkenntnis: Europäer ist, wer zu Verschwörungstheorien neigt.

Was aber soll überhaupt das Gerede von „Sympathiestimmen“? Als ginge es beim Grand Prix um irgendetwas anderes als um Sympathie! Welcher klar denkende Mensch hält den Song Contest noch für einen Musikwettbewerb? Von seinen Schlagerwurzeln hat er sich längst emanzipiert – heute ist er die umfangreichste Volksbefragung, die unser Kontinent kennt. Wer sie vorurteilsfrei zu deuten versteht, dem verraten die wechselseitigen Punktwertungen mehr über kulturelle Traditionslinien, Sympathiefronten, Migrationsbewegungen und Diasporazentren als jede soziologische Europa-Habilitation. Zumal die finale Abstimmung beim Grand Prix auf erhellende Art von tagespolitischem Ballast befreit ist. Beispiel Georgien-Russland: Während die Politiker beider Länder sich zuletzt zähnefletschend beharkten, vergaben ihre Bürger unbeeindruckt Höchstwertungen aneinander. Und warum sollte uns das auch verwundern? Schließlich wurden, selbst als Russen und Georgier 2008 mit Waffen aufeinander losgingen, als georgische Mütter ihre von russischen Soldaten getöteten Söhne zu Grabe trugen, bei den Trauerfeiern sowjetische Lieder gesungen – auf Russisch.

In Moskau wollte in diesem Jahr eine georgische Band mit dem polemischen Stück „We Don’t Wanna Put In“ auftreten. Als das Lied abgelehnt wurde (vom Eurovisionskomitee, nicht von Putin), sagte Georgien seine Teilnahme ab. Das ist schade – denn sonst hätte die Welt auch diesmal wieder das Wunder erleben dürfen, wie die Völker zweier politisch verfeindeter Nationen sich punktend ihre gegenseitige Zuneigung versichern.

Fünfte Erkenntnis: Schlechte Musik ist stärker als schlechte Politik.

Europa kennt viele Staatenbünde. In aufsteigender Reihenfolge ihrer Einflussmöglichkeiten und Exklusivität sind das die OSZE, der 49 europäische Länder angehören, der Europarat mit 47 Mitgliedern, die EU mit ihren 27 Ländern und die Nato, zu der 26 europäische Nationen gehören. Die Europäische Rundfunkunion aber ermöglicht 56 Ländern die Teilnahme am Song Contest! Der Grand Prix ist das inklusivste Länderforum des Kontinents – und vermittelt gleichzeitig eine Ahnung dessen, was Europa sein könnte, wenn es den Mut dazu fände: ein Kulturreich, in dem nie die Sonne untergeht, ein sanftes Imperium, das von Portugals Atlantik bis zur sibirischen Pazifikküste, vom Arktischen Ozean bis zu den Stränden des Roten Meeres reicht.

Statt aber die Sprengkraft eines solchen Forums zu nutzen, sollen nun Fachgremien die basisdemokratische Anarchie des Zuschauervotums zügeln. Statt Eurovisionen erleben wir: Regulierungswut und Ausschlussmentalität.

Letzte, traurigste Erkenntnis: Europäer ist, wer die Bürokratie mehr liebt als die Musik.

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