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Trommeln und wirbeln. Das Originalinstrument aus Volker Schlöndorffs Grass-Verfilmung von 1979. Foto: picture-alliance/ dpa

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Grass-Debatte: Die Nachteile des lauten Trommelns

Von Gottfried Benn über Peter Handke zu Günter Grass: Können Dichter ihr Werk durch politische Äußerungen beschädigen? Mal ja mal nein.

Von Gregor Dotzauer

Wer eigentlich spricht, wenn sich ein Schriftsteller in politischen Dingen äußert, das gehört zu den beliebtesten Fragen eines literarischen Betriebes, der gern auf der Autonomie der Kunst beharrt, ohne die Figur des eingreifenden Intellektuellen preisgeben zu wollen. Ist es der Spezialist des Allgemeinen, der auf fiktivem Terrain Einblicke in das Wesen des Menschen gewonnen hat und seine solchermaßen erworbene Autorität auf die Weltläufte ausweitet? Ist es der Formulierungsvirtuose, den sein Handwerk trainiert hat, Sprachklischees und Denkreflexe zu durchschauen? Oder ist es der Staatsbürger, der seinen Dichternimbus nutzt, um im Dienst einer gerechten Sache (und manchmal der moralischen Eitelkeit) Gehör zu finden?

Die Dickköpfigkeit, mit der Günter Grass Verteidigungsring um Verteidigungsring um sein israelkritisches Gedicht „Was gesagt werden muss“ zieht, gibt längst mehr Anlass zu psychologischen Interpretationen als zu ästhetischen Debatten. Doch auch ihn ereilt nun der Verdacht, er werde sich noch um politischen Kopf und literarischen Kragen zugleich reden, wenn er weiterhin gallige Einwürfe wie in der „Süddeutschen Zeitung“ vom Donnerstag veröffentlicht. In dem kleinen Text berichtet er, dass ihm bisher nur zwei diktatorische Regimes die Einreise verweigert hätten: die DDR und Birma. Mit Israel sei nun eine Demokratie dazu gekommen, die er jedoch als weitaus hoffnungsloser beurteile als die neue Regierung von Birma.

Dies ist nicht der Ort, um die Absurdität der Diskussion ihrer politischen Substanz nach aufzuklären. Es ist allerdings eine traurige Tatsache, dass erst Grass eine Problematik ins öffentliche Bewusstsein hob, die im vergangenen November, als Israel gegenüber dem Iran mit allen verfügbaren Säbeln rasselte, in den Politikressorts mit weitaus höheren Vernunftanteilen geführt wurde als jetzt, da die eingespielten Reaktionen auf das Reizthema viel zu schnell über dessen Ernst hinweggehen. Sinnvoll erörtern lässt sich am Beispiel Grass aber, ob politische Irrtümer, Halbwahrheiten oder gar Dummheiten ein literarisches Werk beschädigen können. Dahinter steht nichts anderes als die Umkehrung der Frage nach der moralischen Autorität des Schriftstellers, und diese Umkehrung zeigt vielleicht auch, warum es darauf keine verbindlichen Antworten gibt.

Man kann mit Recht behaupten, dass Grass’ Gedicht nicht nur den inneren Gesetzen einer Gattung Hohn spricht, die er als junger, „Die Vorzüge der Windhühner“ preisender Lyriker viel eher beherzigte. Es ist in dem Sinn gar kein Teil der Literatur, als es sich durch Zeilenbruch und einige wenige Metaphern zwar um die Simulation von Literarizität bemüht, im Willen, etwas möglichst unverblümt auszusprechen, aber im Pamphletistischen steckenbleibt. Wenn also der Literat Grass spricht, dann höchstens ein entkräfteter. Deutlichkeit und Undeutlichkeit kommen hier einander allerdings auf eine Weise in die Quere, die sich auch in der autobiografischen Prosa der letzten Jahre beobachten lässt.

Können Dummheiten ein literarisches Werk beschädigen?

Was in dem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ die Legionen von Fragezeichen waren, die das, was er aus dem Gedächtnis hervorkramte, sofort wieder in Zweifel zogen, das waren in der „Box“ die unzähligen Auslassungszeichen. Grass erging sich in Orgien der Vagheit und übertraf damit noch die Nebelkerzenprosa des Vorgängers. Wo man in „Zwiebel“ und ihrem wie nebenbei erfolgenden Geständnis, ihr Held sei kurzzeitig Mitglied der Waffen-SS gewesen, noch eine gewisse Moral- und Erinnerungsschwäche vermuten konnte, da erhoben die Unbestimmtheitsfloskeln der „Box“ das Herumstochern zum Programm.

Das alles war so schwache wie kraftmeiernde Literatur, und es verschob die Gewichte zwischen den weniger gelungenen und den gelungenen Partien seines Werks zuungunsten der letzteren, wenn man sich nicht gleich darauf einigen will, dass „Die Blechtrommel“ nach wie vor ziemlich einsam dasteht.

Ganz aus seiner grotesken Erfindungslust heraus versöhnte der Roman Polen und Deutsche miteinander und ließ Oskar Matzerath ankündigen, er wolle endlich ohne Flunkern erzählen, wie es einst war, als unter den Röcken seiner Großmutter Anna Bronski auf dem kaschubischen Kartoffelacker Unerhörtes geschah, ohne das er nie dem nationalsozialistischen Wahnsinn ausgesetzt gewesen wäre und seinen Verfolgern nie hätte entkommen müssen. Die Literatur selbst bemüht sich hier um eine Wahrhaftigkeit, die Grass nichts und niemand mehr nehmen kann – nicht einmal er selbst.

Für einen anderen Fanatiker des Ungefähren, Peter Handke, gilt das schon wieder nicht. Die Art und Weise, wie er die politische Wirklichkeit Serbiens und Ex-Jugoslawiens im Namen einer höheren literarischen Wahrheit umdeutet, lässt gerade durch die Ablösung von allem faktisch Recherchierbaren alles hinter sich, was seit Ludwig Börnes Vormärz-Deutschland mit dem Namen Tendenzliteratur bedacht wird.

Es ist die Wahrheit des Sehers, und ihr Höhepunkt ist „Die Geschichte des Dragoljub Milanovic“ (Jung und Jung Verlag, 2011), eine Rechtfertigungsschrift für den inhaftierten Ex- Direktor des serbischen Staatsfernsehens. Er soll seine Mitarbeiter nicht rechtzeitig vor einem nahenden Nato-Angriff in Sicherheit gebracht haben. Die geradezu religiöse Beseeltheit, mit der hier jemand die Geste des „Ich aber sage euch“ übt, würde man nicht nur jedem Journalistenschüler um die Ohren hauen. Sie würde auch keinen Kurs in kreativem Schreiben passieren. Die Gedankenlosigkeit, mit der hier jemand wiederum die Gesetze nichtfiktionaler Literatur ignoriert, schreit zum Himmel. Sie lässt auch Handkes vermeintlich unschuldigste Aufzeichnungen nicht unberührt.

Die tagespolitischen Äußerungen kritisieren so die Literatur, und die Literatur stellt da, wo sie auf Deutung und Durchleuchtung realer Verhältnisse aus ist, Anforderungen an die Konsistenz ihrer Behauptungen – und deren Verbürgtheit.

Literatur wird genau da beschädigt, wo die Sphären sich nicht in ihrem Eigensinn begreifen. Man mag Ezra Pound, Knut Hamsun, Louis-Ferdinand Céline oder auch Gottfried Benn für ihre faschistischen Irrtümer verachten, ja man mag diese in der Unbarmherzigkeit ihrer Literatur angelegt sehen. Aber der Irrtum folgt nicht unmittelbar aus der Literatur, wie aus Christa Wolfs Literatur der Ruf nach Courage und Barmherzigkeit folgt. Es war Wolfs Glück, dass sie sich in der DDR nie zu politisch skandalösen Äußerungen verstieg. Ihr Freund Günter Grass müsste das am besten verstehen.

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