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Holocaust überlebt. György Konrád.Foto: ddp

© dapd

Kultur: Grausam gewissenhafte Kleinarbeit

70 Jahre Wannsee-Konferenz: Das Schicksal meiner Heimatstadt / Von György Konrád.

Am gestrigen Donnerstag fand in der Berliner Akademie der Künste ein Abend zur Erinnerung an die Wannsee-Konferenz vor 70 Jahren statt, bei der die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes geplant wurde (siehe S. 2). Die Gedenkrede hielt der ungarische Schriftsteller und frühere Präsident der Akademie, György Konrád, unter dem Titel: „Vom Wort zur Tat. Das Schicksal meiner Kleinstadt im Zweiten Weltkrieg“. Wir drucken Auszüge.

Endlösung? Tatsächlich ,Endlösung’? Nun ja, hier stehe ich als ein Beispiel dafür, dass sie nicht vollkommen gelungen ist. Doch die Ermordung von zwei Dritteln der europäischen Juden, das ist schon eine große Leistung. Wenn Adolf Hitler im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg nur ein trotzig aufstampfender Loser gewesen ist, dann können wir ihn, was seinen Traum von der Vernichtung der Juden betrifft, fast schon als Sieger betrachten. Abgesehen von meinen Cousins, meiner älteren Schwester und mir ist es ihm gelungen, alle meine Schulkameraden zusammen mit meinen Cousinen durch Gas und Feuer verschwinden zu lassen. (...)

Am 20. März 1944, einem Montag, ging ich wie gewöhnlich zur Schule. Die deutschen Tiger-Panzer auf dem Hauptplatz unserer kleinen Stadt und die darauf sitzenden, in grauen Uniformen steckenden, Zigaretten rauchenden Soldaten waren nicht zu übersehen. Sie sahen sich um, langweilten sich. Auf der Hauptstraße marschierten in dichter Aufeinanderfolge deutsche Soldaten in feldgrauen Uniformen auf und ab. Die ungarischen Soldaten bewegten sich etwas lockerer. Doch auf die Schmährede von stinkenden Juden verzichteten sie in ihren Gesängen nur selten. Ein Klassenkamerad meinte: „Jetzt steht ihr im Regen.“ – „Wer?“, fragte ich. „Na, ihr, ihr Hunde“, sagte er lachend und lief weg. Auf die Juden hatte er angespielt und sich nicht geirrt. (...)

Am 15. Mai wurden meine Eltern von schwarz uniformierten Offizieren der Gestapo in Begleitung ungarischer Gendarmen, die einen schwarzen Hut mit herabhängenden schwarzen Hahnenfedern trugen, verhaftet. Sie wurden nach Österreich zur Zwangsarbeit deportiert. Wir Kinder wussten nichts von ihnen. Wir hatten gehört, dass die Juden aus der Umgebung von Berettyóújfalu, unserer kleinen Stadt, schon vielerorts in Ghettos gesperrt und in überfüllten Viehwaggons ins Ausland transportiert worden waren. Ohne Vater und Mutter, allein auf uns gestellt, auch so konnten wir Kinder leben. Doch es schien ratsam, die Kleinstadt zu verlassen und nach Budapest zu gehen. Dort hatten uns Verwandte eingeladen. (...)

Wie wir später erfuhren, waren die in Berettyóújfalu zurückgebliebenen Juden am nächsten Tag abgeholt, in das nahe gelegene Ghetto von Großwardein abtransportiert worden und von dort eine Woche später nach Auschwitz. Dort wurden Kinder unter 14 Jahren, so auch meine Cousine Vera, vergast und verbrannt. In Begleitung von Gendarmen gingen sie die Straße entlang, plagten sich mit ihrem Gepäck ab, wurden vom Gehweg aus beobachtet. Manche grüßten sogar, manch einer rief ihnen Beleidigungen hinterher, die meisten aber hüllten sich in Schweigen. (...)

Wir vier Kinder verbrachten zehn harte Monate in Budapest. In dieser Zeit hätten wir, getroffen von den Kugeln der ungarischen Nationalsozialisten, mehrfach Gelegenheit gehabt, unser kurzes Leben auf der Straße, in einem Park oder in der Donau zu beenden.

Alle Pläne waren fertig, alle Vorbereitungen waren getroffen, um auch die viertel Million Budapester Juden zur Eisenbahnrampe nach Birkenau zu transportieren. Eichmanns Kommando hätte diese gigantische Aktion nicht bewältigen können, doch die ungarische Administration sowie die Mehrheit der Gendarmerie wären mit hingebungsvoller Gnadenlosigkeit bereit gewesen, diese Arbeit zu bewältigen. Der Plan wurde nicht durchgeführt. Reichsverweser Miklós Horthy und die loyale ungarische Panzerdivision hatten die Aktion gestoppt und die in Budapest konzentrierten Gendarmen zum Verlassen der Stadt verpflichtet.(...)

Im Sommer 1945 kehrten unsere Eltern nach Hause zurück. Unsere Familie war die einzige in der Kleinstadt, in der Mutter, Vater und die zwei Kinder, wir alle vier, am Leben geblieben waren. (...) Als Ergebnis von alldem lebt heute in der Kleinstadt meiner Kindheit, wo vor der deutschen Besetzung tausend Juden zu Hause waren, kein einziger mehr. (...)

Das große Ganze der Endlösung setzte sich aus viel gewissenhafter Kleinarbeit zusammen. Auch das war Selbstmord-Terrorismus. „Lieber sollen auch wir umkommen, nur damit die zugrunde gehen!“ Die nazistischen Führer wussten 1944 bereits, dass sie den Krieg verloren hatten, sie hätten sich zu Gesten herablassen, hätten die Vernichtung der Juden einstellen können, aber nein, sie erhöhten das Tempo. (...) Dass die Nazis auch mit den Kindern kein Erbarmen hatten, mit ihnen sogar am wenigsten, damit ja keine neue jüdische Generation auftritt, dieser Perfektionismus ist es, der den Holocaust unter den Volksausrottungen zu etwas Außergewöhnlichem macht.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

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