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Kultur: Grenzen des Hörbaren

Alptraum eines Kritikers: Losgezogen mit der Eintrittskarte, die seit Tagen unbesehen in der Jackentasche steckt, in blindem Vertrauen auf eine Anfangszeit, die man bei den hauseigenen "Tagestips" für richtig hält - und beim Eintritt in die Philharmonie, dem Anblick all der gefüllten Garderoben rechts und links, verwandelt sich die vermeintliche halbe Stunde zu früh schlagartig in eine halbe Stunde Verspätung.Leider wirklich passiert.

Alptraum eines Kritikers: Losgezogen mit der Eintrittskarte, die seit Tagen unbesehen in der Jackentasche steckt, in blindem Vertrauen auf eine Anfangszeit, die man bei den hauseigenen "Tagestips" für richtig hält - und beim Eintritt in die Philharmonie, dem Anblick all der gefüllten Garderoben rechts und links, verwandelt sich die vermeintliche halbe Stunde zu früh schlagartig in eine halbe Stunde Verspätung.Leider wirklich passiert.Ein wenig Besucherforschung unter den da und dort ebenfalls im Foyer herumspazierenden Damen und Herren zu treiben, wäre eine Möglichkeit gewesen, dem Ganzen noch einen Sinn abzugewinnen; sich in versteckter philharmonischer Höhe noch in die letzten Minuten von Hans Werner Henzes 7.Symphonie hineinzuschleichen, war sicher die bessere.

Mit ihrem breiten epischen Strom nimmt diese Musik den Hörer sofort in sich auf, vertraut und doch seltsam verschoben ziehen sich die melodischen Bögen sinnfällig durch den ganzen großen Orchesterapparat.Und man ahnt noch einmal etwas von den Erschütterungen der vergangenen halben Stunde in dem schmerzhaft strahlenden Klangwirbel des Schlusses, der dann überraschend in eine Art Innenklang implodiert, einen Klang, der die Musik in sich aufzusaugen scheint, sie in eine andere Sphäre hinein immaterialisiert.Vom Deutschen Symphonie-Orchester unter Arturo Tamayo mit glänzender Überzeugungskraft gespielt, ist dies alles andere als ein bloßer Überraschungscoup zum Schluß.Es ist der Punkt, in dem die eigentliche Wahrheit des Stückes verankert ist, der vom Hölderlin-Sujet ("Hälfte des Lebens") her gegebene unumkehrbare Rückzug in eine Innenwelt gegenüber der Außenwelt, in der das Menschliche sich zerstört.

In dieser fragmentarischen Hörerfahrung öffnet sich Henzes Musik mit ihrem Schlußklang wie durch eine Tür in die Klangwelt der folgenden Musik von Luigi Nonos "1´) Caminantes ...Ayacucho" hinein.Aus Henzes doch eher nur rhetorischer Form der Infragestellung wird bei Nono gleichsam ein Fragezeichen hinter jedem einzelnen der Klänge.Klänge, die, im reinen Sinn voraussetzungslos, in ihrer Setzung erst allmählich den Raum füllen, ihn definieren, aus der Stille heraus und in die Stille hinein dynamische und tonhöhenmäßige Grenzen des Hörbaren erkunden, Möglichkeiten ihrer zeitlichen Verknüpfung andeuten, unterwegs auf der Suche nach dem Weg, mit einer virtuos eingesetzten Live-Elektronik (Experimentalstudio der Strobel-Stiftung), die zwischen hautnaher Präsenz und unendlicher Ferne vermittelte.Das 1987 in Berlin vollendete Stück für im Raum verteilte Vokal- und Instrumentalgruppen, Kontraalt, Baßflöte und Orgel als Solisten ist eines der späten Nono-Werke zum "Wanderer"-Thema, deren Infragestellung vorgegebener Orientierungen bis heute nichts an Faszinationskraft eingebüßt hat.

MARTIN WILKENING

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