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Griechenland: Rambo und Alexander

Aufruhr in Griechenland: Europa erkennt sich selbst (nicht) wieder / Von Amanda Michalopoulou.

Die Aufstände in Athen und vielen anderen griechischen Städten zeigen, dass die Eurozone eine rein theoretische Angelegenheit ist. Sobald Regierungen auf Widerstand im eigenen Land stoßen, nehmen sie wieder Zuflucht bei einem Denken, das innere Gegebenheiten (wie Korruption und soziale Schieflagen) und äußere (wie die Rezession in der westlichen Welt) nach überkommenen Maßstäben wahrnimmt.

Vor einer Woche wurde der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos, ein Jugendlicher aus der Mittelschicht, im Athener Stadtviertel Exarcheia von der tödlichen Kugel eines Polizisten getroffen. Der Unglücksschütze trägt den Spitznamen Rambo. Es folgte eine Protestwelle von Schülern, Studenten, Linksradikalen und Anarchisten mit ungebrochener öffentlicher Unterstützung. Es ist der intensivste und brutalste Ausdruck einer Massenfrustration und eines Zorns, den Griechenland seit dem Militärputsch in den sechziger Jahren so nicht mehr erlebt hat.

Was bedeutet die Erschießung eines halben Kindes durch einen Staatsangestellten für eine extrem familienorientierte Kultur wie die griechische? Landesweit sind Eltern am Boden zerstört, Kinder weinen und schreiben Gedichte, die ganze Gesellschaft befindet sich in einer Schockstarre. Der Tod von Alexandros hat etwas Symbolisches. Er steht für das mangelnde Interesse am Schicksal der eigenen Bürger. Auf einmal ergibt alles einen traurigen Sinn: die harte Steuerpolitik, die Aushöhlung der sozialen Sicherheit, die ernsten Probleme im Bildungswesen, die Serie von Skandalen und Affären. Der letzte dieser Skandale, ein Landtausch zwischen dem Vatopedi Kloster auf dem Berg Athos und dem griechischen Staat, kostete den Steuerzahler über 100 Millionen Euro. So gesehen war Rambo kein Psychopath, sondern das Produkt der griechischen Politik. Wie ihre Protagonisten sah er die Möglichkeit, Untaten zu begehen und mit ihnen davonzukommen. Sein Anwalt sprach von „Missverständnissen“, ein Wort, das griechische Politiker mit alarmierender Leichtigkeit benutzen.

Es liegt auf der Hand, dass in Griechenland zwei Kategorien von Bürgern leben: die einen, die bestraft werden, die sogenannte 700-Euro-Generation, junge Leute mit niedrigen Einkommen und entsprechender Selbstachtung, die noch mit 30 bei den Eltern leben, und die Großeltern, die mit Pensionen von 400 Euro auskommen müssen. Und die anderen, die Immunität genießen: Politiker, Geschäftsleute und Mönche.

Schon 1985 kam ein 15-Jähriger durch eine Polizeikugel zu Tode. Die sozialdemokratische PASOK, heute in der Opposition, versprach damals, Untersuchungen durchzuführen und Schuldige exemplarisch zu bestrafen. Der Innenminister reichte, wie es gerade auch Prokopis Pavlopoulos tat, sein Rücktrittsgesuch ein. Aber so wie damals Andreas Papandreou, widersetzt sich jetzt auch Premierminister Kostas Karamanlis. Es ist das gleiche alte Spiel, nur mit neuen Akteuren. Und auch diesmal wird der Polizist wohl einer Strafe entgehen. Die Menschen sind so sehr daran gewöhnt, mit Ungerechtigkeit und Korruption zu leben, dass sie nicht einmal ihre eigenen Gefühle verstehen. „Sind wir alle Anarchisten“, fragen sie in Blogs. „Nein“, antworten sie sich, „wir sind Protestler“. Um zu verstehen, was in Griechenland geschieht, müssen wir uns vor den vom Fernsehen heiß geliebten Bezeichnungen hüten, denen zufolge „Vermummte“ und „bekannte Unbekannte“ die Stadt in Brand steckten.

Die erschöpfte Mittelschicht identifizierte sich mit den Protestlern. In einer Karikatur, die versicherte, dass „die Regierung die Ereignisse aus nächster Nähe beobachtet“, sah man, wie Karamanlis und Pavlopoulos die Unruhen im Fernsehen mit weit aufgerissenen Augen verfolgten. Tatsächlich hat sich die Regierung entschieden, Griechenland ein gutes Jahr nach dem Sommer, in dem tagelang Waldbrände wüteten und Menschen und Tiere das Leben kosteteten, ein zweites Mal brennen zu lassen. Und wieder ist sie nicht Herr der Lage. Die Polizei wurde lediglich angewiesen, sich zurückzuhalten, wahrscheinlich aus Angst, dass die untrainierten Polizisten noch mehr Unglücksfälle verursachen würden. So wie die Feuerwehrkräfte vor den Bränden im Sommer 2007 nach Parteizugehörigkeit getrennt waren, kommen und gehen diesmal die Polizisten. Man kann sich ausmalen, was das für die Ausbildung bedeutet.

Die Griechen sind sowohl ihrem eigenen Verständnis wie der Geschichte nach äußerst politisch, und sie haben im Bemühen, „zivilisierte“ europäische Bürger zu werden, über die Jahre Wut und Enttäuschung angesammelt. Ihre Apathie ist auch eine Folge einer Fernsehkultur, deren Einfluss auf das tägliche Leben gern unterschätzt wird. In einem typischen griechischen Haushalt läuft der Fernseher von morgens bis Mitternacht. Trash-TV, Reality Shows und Geschichten von den reichen Promis ersetzen das wirkliche Leben. Es geht nur noch um Geld und Macht. Wie Schauspieler in einer Soap Opera besitzen die Griechen inzwischen zwei oder drei Autos, die sie sonntags waschen. Mit Hilfe von Krediten kaufen sie Apartments und Sommerhäuser, die am Rand von Wäldern von Bauunternehmern auf verbranntem Land errichtet werden. Sie schicken ihre Kinder in teure Privatschulen, arbeiten sich für die Zinsen ihrer Kredite krumm und bucklig und überlassen die Kindererziehung den Großeltern und Babysittern.

Wie ist es nur so weit gekommen? Die gesamte Eurozone muss diese Frage früher oder später beantworten. Aber die Griechen müssen dies als erste tun.

Amanda Michalopoulou lebt als Schriftstellerin in Berlin und Athen. Auf deutsch sind von ihr erschienen: „Oktopusgarten“, „So ist das Leben“, „Ich mach’ euch den Garaus“. – Aus dem Englischen übersetzt von Gregor Dotzauer.

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