zum Hauptinhalt
Und was kommt als Nächstes? Straßenszene in Athen, im Juni 2012.

© dpa

Griechenland vor der Wahl: Die Angst der Athener

Am Sonntag wählt Griechenland und Europa schaut gebannt zu. Aber wie erleben die Menschen die Lage, wie reagieren die Künstler? Notizen eines Berliner Theaterregisseurs.

Überall Polizei. Vor allem nachts. schwer bewaffnet, schwer geschützt hinter großen Schutzschilden. Die Stadt ist in Bereitschaft, als könnte es jederzeit losbrechen, aber keiner weiß genau, was losbrechen wird, wo es losbrechen wird, und wen es treffen wird. Die Stimmung ist ruhig und angespannt zugleich. Als überlagerten sich hier gegenläufige Kraftfelder: Die einen sind gelassen und denken, das wird schon irgendwie weitergehen, keine Ahnung, wie, aber irgendwie läuft das alles einfach weiter, die anderen sind wütend und die Wut muss irgendwo hin, und man hat nur noch nicht das richtige Ziel gefunden, keine Richtung: Wohin mit der Wut? Wer ist hier eigentlich genau der Feind? Wer ist verantwortlich für all das hier? Mit wem könnte man reden, verhandeln, auf wen könnte man einfach mal einschlagen? Das weiß keiner so genau. Also brennt ab und an mal ein Auto oder auch eine Bank. Das Leben geht indes weiter: Nachts sind die Straßen und Cafés voll, aus den Bars dröhnt laut Musik, für deutsche Verhältnisse ist das hier Feierlaune. Nein, das hier ist Depression, sagt eine meine Begleiterinnen, so sehen wir aus, wenn wir depressiv sind, nimm das hier mal hundert, dann weißt du, wie es hier vor der Krise aussah.

Bildergalerie: Die gescheiterte Regierungsbildung in Griechenland

Protect Me – so heißt die Inszenierung, mit der ich nach Athen zum Gastspiel eingeladen wurde. Es geht in meinem Stück um die Krise und die daraus folgende Ungewissheit, Orientierungslosigkeit, die Lähmung, die Wut, die Suche. Ein System bricht zusammen, und wer rettet mich? Unter welchen Schutzschirm kann ich mich stellen? Zentrale Figuren sind ein 86 Jahre alter Mann, der schon mehrere politische Systeme hat fallen sehen – die Weimarer Republik, Nazideutschland, die DDR, das Empire der D-Mark – und sein Sohn, ein etwa 40-jähriger Autor, der versucht, all das zu verstehen, was gerade wegbricht und gerettet werden soll. Worauf bewegen wir uns zu? Wir sind im Ausnahmezustand, wir sind in einem Übergangsstadium. Dieses System, dieses Leben, so wie wir es jetzt leben, wird es bald nicht mehr geben. Aber was kommt dann?

Das Theater, in dem wir aufführen und wo ich auch meine Masterclass gebe, ist ebenfalls schwer bewacht, überall private Sicherheitsdienste, vor jeder Tür muss man eine Karte einlesen lassen, vor meinem Seminarraum stehen zwei Wächter und lassen nur ein, wer auf einer Liste steht. Die Teilnehmer sind Regisseure, Dramaturgen, Autoren, Choreografen, Schauspieler. Es soll um die Frage gehen, wie man die aktuelle Situation theatralisch fassen könnte, wie man sie überhaupt fassen kann. Was passiert hier gerade mit mir in diesem Land.

Ein Teilnehmer berichtet: „Im Internet sah ich heute zwei Fotos zweier Männer direkt nebeneinandergestellt – Alexis Tsipras, Chef der griechischen Linken, und Mark Zuckerberg, Gründer von Facebook. Der griechische Teufel stand da direkt neben dem Superstar des neuen Netzwerkkapitalismus. Der eine wurde als die zerstörerische Kraft gezeigt, die diese schöne neue Netzwerkseite demnächst einstürzen lassen wird. Griechenland als die Kraft des Bösen, der Zerstörung, die den Euro, Europa und den gesamten Finanzkapitalismus zum Einstürzen bringen wird. Daneben der arme Mark Zuckerberg, der Held des neuen Unternehmertums, und sein Imperium, das der griechische Teufel nun bald kaputtmachen wird. Licht und Dunkel. Innovation und Vernichtung.“

Warum Regisseure und Dramaturgen Zweitjobs brauchen

Und was kommt als Nächstes? Straßenszene in Athen, im Juni 2012.
Und was kommt als Nächstes? Straßenszene in Athen, im Juni 2012.

© dpa

Eine Teilnehmerin notiert: „Griechenland = Teufel“ und entwirft bereits Kostüm und Bühnenraum für ein entsprechendes Projekt, während eine junge Regisseurin erzählt: Ich hatte es eilig, musste zu einer Sitzung, mein Produzent war am Handy, wir sprachen über Geld, vor allem darüber, dass keines mehr da sein würde, da war ein Stand mit einer ganz alten Bauersfrau. Ich wollte Erdbeeren und bat sie, mir schnell ein paar einzupacken. Plötzlich clashten diese beiden Zeitebenen aufeinander, das neue und das alte Griechenland: Die alte Frau nahm jede Erdbeere einzeln in die Hand, schaute sie an, und legte sie eine nach der anderen langsam in den Korb und zählte sie dabei ab und schaute konzentriert auf ihre Erdbeeren. Es dauerte ewig, und ich dachte: Oh Gott, wenn wir jetzt den Euro verlieren und die uns rausschmeißen aus der EU, dann werden wir uns wieder zurückbewegen auf diese alte Zeit hin, alles wird sich verlangsamen und wir werden wieder diese langsamen griechischen Bauern, die alles selbst anbauen, weil wir nicht mehr Teil der globalisierten Welt sein werden.

Die Regisseure und Dramaturgen, die ich treffe, arbeiten alle noch in Zweitberufen, als DJ, in einem Restaurant, in einer Bar. Was soll man jetzt aufführen? Ein kleines, etwas zerfallenes Theater im Stadtzentrum hat die antike griechische Tragödie „Sieben gegen Theben“ auf dem Spielplan. Die zerstrittenen Machtkenner auf der Bühne sehen aus und reden rhetorisch medienerprobt leer verlogen wie moderne griechische, wie moderne europäische Politiker. Alle sind zerstritten, keine Einigung in Sicht, keine Lösung. Das ist ja das, was die griechische Tragödie ausmacht, sagt mein Begleiter, es gibt keine Lösung, es gibt nur den Interessenkonflikt, es gibt keine gemeinsame Richtung. Wenn wir wählen gehen, kommt nur das Ende der Demokratie dabei heraus. Es lassen sich keine Koalitionen bilden, keine Mehrheit: Paralyse. Im schlimmsten Fall rutschen wir in eine von Europa gebilligte Militärregierung zurück, und die Nordeuropäer werden denken: Jetzt ist da endlich Ruhe.

Die erste Runde der Parlamentswahlen in Bildern

Im Club der Fatalisten wird nachts um drei zu Morrissey und The Cure getanzt. Während der gesamten Zeit habe ich nicht ein einziges Mal ein Getränk bezahlt, ich werde immer eingeladen. Wenn ich mal alle einladen will, wird das entrüstet zurückgewiesen: Du bist unser Gast, du zahlst nicht. Die griechische Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft ist unvergleichlich. Natürlich versteht hier keiner, dass die Hilfe aus dem reichen Norden nur unter für sie lebensfeindlichen Auflagen geleistet wird. Angetrunkene Fatalisten an der Bar:

„Hör endlich auf, immer dieses Wort Europäische Union zu sagen. Es gibt keine europäische Union. Union hieße, wir hätten gemeinsame Werte, haben wir aber nicht: Wir haben eine Wirtschaftsunion, aber wir haben keine gemeinsame europäische Idee, die wir teilen, wir fühlen nicht europäisch.“

„Wenn wir nach Paris fliegen, sagen wir: Ich fliege heute nach Europa. Auf dem Weg zwischen uns und euch sind so viele Länder auf der Landkarte, die nicht zur Europäischen Union gehören, kannst du mir da mal die Logik erklären: Wieso sind wir Europäer und die Serben und Albaner nicht?“

„Vielleicht sind wir wie Selbstmordattentäter, wir haben jetzt einfach die Schnauze voll und jagen alles in die Luft. Aber immerhin fliegt ihr dann auch in die Luft. Vielleicht muss das jetzt hier einfach alles zusammenbrechen, erst dann kann etwas Neues entstehen. Und irgendwie muss etwas Neues entstehen.“

"In Rumänien während des Kommunismus war es besser als das hier"

Und was kommt als Nächstes? Straßenszene in Athen, im Juni 2012.
Und was kommt als Nächstes? Straßenszene in Athen, im Juni 2012.

© dpa

„Nur, was, das weiß keiner so genau. Es gibt keine Idee dafür, wie es besser funktionieren könnte, und das schafft eine beißende Leere. In diese Leere mischen sich Angst, Wut und Verzweiflung und die Suche nach einem Retter. Und da bieten sich zum Beispiel die griechischen Faschisten an mit ihrem Wahlslogan: Let’s clean the place.“

„Vielleicht rutschen wir zurück in den Faschismus. Vielleicht hat sich nie ein wirklich demokratisches Bewusstsein hier ausgebildet. Vielleicht hat sich in ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht wirklich ein stabiles neues Bewusstsein ausgeprägt, und wir fallen jetzt einfach zurück in unsere Geschichte. Wir fallen. Zurück.“

Notizen einer jungen Autorin am nächsten Morgen in der Masterclass: Angst, Erpressung, Bedrohung, Profit, Markt, Referendum, Umfragen, Prozentpunkte. Kein fester Boden unter den Füßen, Feindseligkeit, Wut, Leute schreien sich an, keiner hört zu, und plötzlich geht mir diese Frage durch den Kopf: Wofür steht noch mal das olympische Feuer, das dieser Tage nach London transportiert wird? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr. Die Autorin schaut in die Runde und erzählt:

Bildergalerie: Anti-deutscher Protest in Griechenland

„Ich warte in der Unfallaufnahme, seit Stunden, kein Arzt lässt sich blicken, das Krankenhaus ist total unterversorgt. Eine alte rumänische Frau, die seit fünf Stunden mit einem gebrochenen Fuß wartet, sagt: In Rumänien während des Kommunismus war es besser als das hier. Ich frage mich, was ist das hier eigentlich? Das Land, in dem ich lebe: ein Wartesaal voller Patienten, alle warten auf Hilfe, aber kein Arzt weit und breit.“

Eine erste Szene: zwei Tänzer bewegen sich orientierungslos im Raum, rutschen immer wieder ab, finden keinen Halt, jemand steht am Mikro und sagt: „Ich stehe am Bankschalter und will Geld abheben. aber die Angestellten schauen nur beschämt an mir vorbei: Das System funktioniert nicht mehr. Tut uns leid, wir kommen gerade nicht ans Geld ran. Systemzusammenbruch, nichts zu machen. Wir warten auf jemanden, der das System reparieren kann, aber wir wissen nicht, wann der kommt.“ Zusammenbruch. Paralyse, keiner weiß, wann das System wieder funktioniert. Dann dreht jemand langsam das Licht aus. Das könnte ein Anfang sein für die nächste Szene.

Falk Richter, Jahrgang 1969, ist Autor und Regisseur und arbeitet seit 2000 regelmäßig an der Berliner Schaubühne. Seine Theaterstücke („Electronic City“, „Unter Eis“, „Trust“, „Protect Me“) liegen in mehr als 25 Übersetzungen vor und werden weltweit gespielt. Richter inszenierte u. a. am Schauspielhaus Zürich, Wiener Burgtheater und am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Falk Richter

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false