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Kahlschlag. Mitarbeiter des Athener Kultusministeriums protestieren gegen Kürzungen.

© AFP

Griechischer Alltag (5): Bildungs-Grexit: Wenn Kinder plötzlich Angst vorm Sterben haben

Mein Land ist aus dem Takt geraten: Die Bildung geht den Bach runter, Verlage schließen, Veranstaltungen werden gestrichen. Die Folge: Die Rezession und die Angst wirken sich auf die Psyche aus. Und die griechischen Kinder sind keine Kinder Europas mehr.

Ich bin 1966 in Athen geboren. Als die Diktatur der Obristen an die Macht kam, war ich noch ein Krabbelkind. Meine erste Erinnerung verbindet sich mit Giorgos Papadopoulos. Mit seinem Gebrüll im Schwarzweißfernseher, wie er mit der Hand auf das Pult schlägt. Man hat mir erzählt, ich sei unter unser Wohnzimmertischchen gekrochen. Ich hätte mich hingekauert und mir die Ohren zugehalten, bis sie den Ton leiser stellten.

Währenddessen entwickelte sich die übrige Welt weiter: In Frankreich bildete George Pompidou die Regierung, in England war die Homosexualität nicht mehr strafbar, in Prag und ganz Europa setzte der berühmte Frühling ein. Die Beatles standen auf dem Zenit, erste Boeings 737 durchschnitten den Himmel, und die Apollo landete auf dem Mond. Meine Eltern waren an all den gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen nicht beteiligt. Sie lasen davon, sie träumten davon, wie ein Hungriger von der Nahrung träumt.

Erste abgesagte Opern-Aufführung: die Tickets verkauften sich nicht mehr

Während meiner Schulzeit war Europa noch ein Traum – die Strapazen der Diktatur und die nur langsame Rückkehr der Demokratie hielten Griechenland lange Zeit von den europäischen Standards in Erziehung und Fortschritt fern. Dann entstand das Europa der 19 – eine kantige Familie aus entfernten Verwandten. Was uns Griechen betrifft, kam es zu einer Folge von traurigen Regierungen und immer unerträglicher werdenden griechischen Schulden. Nun kehren wir im Hauruckverfahren dahin zurück, wo wir herkamen. Glückliches Neues 1967!

Nach den letzten fünf Monaten ist Griechenland nicht mehr das, was es war. Mich jedenfalls beginnt es bedrohlich an das Griechenland der Diktatur zu erinnern. Nicht nur, weil es sich zu einem europäischen Protektorat entwickelt, das sich nur so weit bewegen kann, wie es die Ketten erlauben. Auch nicht, weil wir noch einmal einem unmenschlichen Vernichtungsplan zugestimmt haben – ich glaube, Kreditgeber und -nehmer wissen letztlich, dass die Vereinbarung eine Strafe darstellt, keine Lebensgrundlage.

Kinder im Ferienlager träumen, dass die Drachme zurückkehrt

Es gibt noch einen Grund, weshalb sich das Leben in Griechenland schwindelerregend rückwärts entwickelt: Die Rezession wirkt sich allmählich perfide auf die Psyche aus. Die Ängste und Unsicherheiten haben das tägliche Leben verändert. Leere Buchläden, reihenweise gestrichene Veranstaltungen, Menschen, die nur noch an den Nachrichtensendungen oder den Geldautomaten hängen.

Vor wenigen Tagen hat in Athen der Scripta Verlag zugemacht, und zum ersten Mal musste eine Vorstellung der Athener Oper abgesagt werden (Bizets „Carmen“), weil kaum Karten verkauft wurden. Ist das wichtig? Ich denke schon. Koproduktionen mit dem Ausland zerschlagen sich, Programme fallen ins Wasser, der Grundrhythmus des urbanen Lebens kommt uns abhanden. Athen ist keine europäische Metropole mehr. Welche Monstrositäten sich hier anbahnen, wird man in den kommenden Monaten sehen. Und wohl auch in den kommenden Jahren.

Ausverkauf. Am Freitag auf dem Fischmarkt von Athen. Der Internationale Währungsfond hatte am Donnerstag angekündigt, kein neues Hilfspaket aufzulegen, falls die Bedingungen zur Schuldentilgung nicht erfüllt und Reformen nicht durchgeführt würden.
Ausverkauf. Am Freitag auf dem Fischmarkt von Athen. Der Internationale Währungsfond hatte am Donnerstag angekündigt, kein neues Hilfspaket aufzulegen, falls die Bedingungen zur Schuldentilgung nicht erfüllt und Reformen nicht durchgeführt würden.

© AFP

Für Bildung und Kultur ist die griechische Regierung verantwortlich. In den letzten Monaten hat sie die heimische Bildung von den internationalen Aktivitäten abgekoppelt und Proteste heraufbeschworen. So ruft das Panhellenische Komitee der Initiative „Bildung 2015“ dazu auf, „vom politischen System des Landes zu fordern, der neuen Generation die Bildung zu bieten, die sie verdient und die die heutige Zeit erfordert“. Es befürchtet einen Bildungs-Grexit, mit bösen Folgen für die nachfolgenden Generationen.

Unterdessen beobachte ich kleine Details, kaum merkliche Reaktionen, die aber vielsagend sind. Zum Beispiel die Söhne von Freunden in den Ferienzeltlagern für Kinder. Statt ihren Eltern entgegenzulaufen und ihnen von ihren neuesten Errungenschaften zu erzählen, sagen sie, sie hätten geträumt, wir würden zur Drachme zurückkehren. Sie erinnern mich beängstigend an meine eigene Kindheit: an die Unfreiheit und die Furcht zu Beginn der siebziger Jahre, an die Klaustrophobie und die Panik.

Die Kinder sehen die Furcht in den Augen der Eltern

Nein, diese griechischen Kinder sind keine Kinder Europas mehr. Während ihre Altersgenossen in Deutschland, Frankreich, Schweden Sicherheit und Sommerferien genießen und von der Zukunft träumen, sind die Griechenkinder destabilisiert. Wir kennen die Allmacht des kindlichen Denkens: Es ist das Alter, in dem die Fantasie vorherrscht und das Kind sich als Herr der Welt fühlt. Ich fürchte, dass sich diese Kinder als Sklaven fühlen. Und bereits unter Depressionen leiden. Sie schauen ihren Eltern in die Augen, um zu sehen, was sie zu befürchten haben. Die kleineren sind ergreifend in ihrer Naivität, diesem poetischen Alles oder Nichts. „Kann es sein, dass wir sterben?“, fragen sie, während das Durchschnittskind in Europa fragt, ob es ein Eis essen oder eine Runde mit dem Rad fahren darf.

Und weil die Eltern nicht die Zeit haben, pädagogisch zu denken – Pädagogik ist in einem hohen Maß das Produkt von Kultur, Lebenserfüllung, Wohlstand – , verstärken sie den Teufelskreis des Terrors. Ich verurteile sie nicht, ich mache selbst solche Fehler. Und ich will die Kindheit weder romantisieren noch verteufeln. Aber ich gehöre zu denen, die glauben, dass alles, was einen quält, was man sich selbst in den ersten Lebensjahren nicht zu fühlen gestattet, später zurückkehrt und einen verfolgt wie die antiken Erinnyen. Ich habe Angst, dass Griechenland und Europa in einem unseligen Zusammenspiel Generationen von griechischen Kindern erzeugen, die an chronischen psychischen Erschöpfungszuständen leiden wie die Soldaten von Erich Maria Remarque – erinnern Sie sich noch? Obwohl sie desertiert waren, gingen sie infolge des Krieges zugrunde.

In diesem nicht erklärten Krieg, den wir jetzt in Europa erleben, ist alles neu und spielt sich in den Parlamenten ab, nicht auf den Schlachtfeldern. Der Infantilismus und die Opferhaltung, diese chronischen Probleme der griechischen Psyche, werden nun alle Zeit der Welt haben, auf den Wunden der neuen europäischen Krise auszueitern. Das Problem ist nicht nur unser heutiges Europa, sondern auch das Europa, das wir unseren Kindern übergeben.

Amanda Michalopoulou, Jahrgang 1966, lebt als Schriftstellerin in Athen und auf den Inseln. Diesen Sommer drucken wir in loser Folge ihre Berichte aus Griechenland. – Aus dem Griechischen übersetzt von Birgit Hildebrand.

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