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© Agentur Zenit Berlin

Grips Theater: Die Revue vom Déjà-vu

Segen und Fluch der „Linie 1“ : Wie das Grips Theater zu seinem 40. Geburtstag die „Linie 2“ ins Rollen bringt.

Linke Geschichten, Berliner Theatermythen: Sechzig Jahre alt wird das Berliner Ensemble in diesem Herbst, das GripsTheater ist vierzig. Seltsame Zahlen. Erst sechzig die eine Institution, schon vierzig die andere! Wie verschieden sich Ewigkeit anfühlen kann. Während das runde Jubiläum an dem großen Haus schwer ins Museale kippt, zeigt sich die kleine Bühne immer wieder erneuert und frisch. Niemand ist auf Dauer davor sicher: Steht das Theaterhistorische erst einmal im Vordergrund, bewegt sich in der Gegenwart nicht mehr viel. Peter Steins Schaubühne hat diesen Umschlag ins Erinnerungsselige erlebt, Frank Castorfs Volksbühne kämpft dagegen an.

Wie lange hat sich Grips-Gründer Volker Ludwig geziert und Zeit gelassen mit einer Fortsetzung seiner „Linie 1“. Es ist das Stück, mit dem das Grips-Theater um die Welt gefahren ist, das Vehikel eines unwahrscheinlichen Erfolgs – so etwas wie die „Mutter Courage“ oder „Mamma Mia“ vom Hansaplatz.

Mythen besitzen die unangenehme Eigenschaft, zäh ihr Eigenleben zu behaupten. Wiederholen lassen sie sich nicht, aber überschreiben und überlisten. Das hat Volker Ludwig mit seinem Regisseur und Co-Autor Rüdiger Wandel nun endlich versucht. Die „Linie 2“ rollt an, ein Geisterzug. „Linie 2 ist eigentlich ein Stück darüber, dass es niemals eine ,Linie 2’ geben wird“, stellte Wandel bei den Proben fest, womit das Geheimnis der „2“ auch schon teilweise gelüftet ist. Keine neue Streckenführung durch die Stadt, sondern eine Backstage-Comedy der „Linie 1“. Wie es sich anfühlt, 23 Jahre lang mit einer Legende zu leben, gefangen in der Endlosschleife der eigenen Fantasie, die längst die Wirklichkeit übernommen hat. Eine Reise in den Fundus, ein Märchen, das so traurig beginnt und – wir sind schließlich im Grips-Theater! – in ein Happy End mündet, das zugleich sentimentaler und komischer ist als das Original.

Und ewig grüßt das Theatertier. Ein Schauspieler namens Thomas K. spielt in dieser Déjà-vu-Revue seit der „Linie 1“-Uraufführung 1986 die Rolle des verklemmten Dichters im Trenchcoat, der in der U-Bahn dem schönen fremden Mädchen nachjagt. In dem knappen Vierteljahrhundert ist er, kraft mythischer Magie, nicht gealtert, immer noch 28 Jahre jung, in Tausenden von Vorstellungen hat er sich immer wieder in seine Bühnenpartnerinnen verliebt. So viele Um- und Neubesetzungen, und jedes Mal blieb der Schauspieler auf seinen Gefühlen sitzen.

Jetzt reicht’s, er will sich aufhängen. Er hat kein Geld, fliegt aus der Wohnung, der „Alptraum“ (so heißt die „Linie 2“ im Untertitel) droht den schmächtigen Jüngling mit den verträumten Augen zu erdrücken. Der alte Nachbar rettet ihn: eine rührende Szene zwischen Jens Mondalski, dem Trenchcoat- und Schlapphut-Gespenst, und Grips-Veteran Dietrich Lehmann. Sie spielen sich hier selbst, sie parodieren ihre angestammten Grips-Rollen, sie machen sich über ihren „Volker“ lustig, der die „Linie 1“ an einen internationalen Unterhaltungskonzern verkaufen will.

Angetrieben von der Band No Return, überrascht „Linie 2“ als stachelige Hommage des Grips-Theaters an die eigene Adresse. Und wenn es in der 40-jährigen Geschichte des Grips politisch auch manchmal recht erwartbar zugegangen ist: Für einen Kalauer, für eine gute Pointe hat Volker Ludwig immer schon das Ideologische fahren lassen. Er will kein Denkmal sein und ist es doch. Ein Denkmal, dessen Selbstironie größer ist als der Sockel. In der Szene auf dem Spielplatz fragt eine patzige Mutter einen alternativen Erzieher: „Sagen Sie, diese ewigen Grips-Lieder, wie halten Sie das nur den ganzen Tag aus?“ Der sich daraus entspinnende Dialog trifft das Grips im Kern: „Ich stelle mir vor, die Kinder würden die Lieder als Erwachsene immer noch singen.“ – „Sie meinen, dann sähe die Welt anders aus?“ – „Ich meine ja nur“.

Das ist natürlich gespielte Bescheidenheit. Die Grips-Hymnen haben Generationen geprägt. Sie stellen sich wie gute alte Bekannte ein, die Songs aus „Café Mitte“, „Rosa“ und „Baden gehn“, aus den Kinderstücken und aus jenem Wunderhit, dem sie alle zu entfliehen trachten. Man könnte an Brechts Geschichte von Herrn Keuner denken, der einem Mann begegnet, der ihn lange nicht gesehen hat und mit den Worten „Sie haben sich gar nicht verändert“ begrüßt. Bekanntlich erbleicht da der Herr Keuner. Beim Grips gibt es dafür keinen Grund. Ludwigs Truppe lebt von der Veränderung, vom Existenzkampf. Wie die junge Schauspielerin Nina Reithmeier mit großer Klappe den Grips-Sound ins Hier und Heute rappt, das sagt viel. Thomas Ahrens, Urgestein der „Linie 1“, gibt mit „Volker“-Frisur den genervten Regisseur auf der Probe. Im echten Bühnenleben hat Ahrens den Ausstieg aus der „Linie 1“ geschafft. Hier weist er eine BVG-Novizin ein. Alles beginnt von vorn ...

Von solcher Hinterbühnenfotzigkeit hätte man sich mehr gewünscht. Da hat die „Linie 2“ ihre schönsten Momente – als kaputtes Boulevardbravourstück. Ein einziges Mal wagt sich die „2“ schließlich auch in die U-Bahn. Und wächst, kaum zu glauben, über die „Linie 1“ hinaus.

Die Oktobertermine sind ausverkauft. Info: www.grips-theater.de

Rüdiger Schaper

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