zum Hauptinhalt
Neue Mittelklasse. Chen Jian, 33, Sohn von Pfirsichbauern, arbeitet jetzt in Schanghai als Manager einer ausländischen Firma.

© Johannes Eisele/AFP

"Große Ambitionen" von Evan Osnos: Das Helle und das Dunkle

Der Amerikaner Evan Osnos entwirft in „Große Ambitionen“ ein lebendiges Panorama des zeitgenössischen China - mit romanhaften Zügen.

Von Gregor Dotzauer

Die westliche Literatur über China zerfällt in Stapel von Reiseführern, Kochbüchern, historischen Darstellungen, Benimmfibeln, spirituellen Handreichungen, Politanalysen und Schauermärchen von der Wirtschaftsweltmacht. Welcher Autor könnte schon alle Seiten des Riesenreichs zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen? In einem Land mit rund 1,37 Milliarden Einwohnern und 55 Nationalitäten, die allein in der Volksrepublik offiziell anerkannt sind, grenzt schon der Versuch, einen repräsentativen Ausschnitt darzustellen, ans Unmögliche.

Dennoch stürzen sich Unerschrockene immer wieder ins Getümmel. Das Glück, mit dem der große Romancier Yu Hua unter dem Titel „China in zehn Wörtern“ Schlüsselbegriffe wie Volk, Führer, Revolution und Graswurzeln zu einem grandiosen essayistischen Mentalitätsbild verarbeitete, winkt wohl nur einem Einheimischen. Hierzulande hat zuletzt die „Zeit“-Korrespondentin Angela Köckritz mit „Drachenläufer“ (Droemer Knaur) ein farbiges Porträt des zeitgenössischen China vorgelegt; in den USA zählt vor allem Peter Hessler mit seinen Reportagebüchern „Orakelknochen“ und „Über Land“ zu den vertrauenswürdigen Stimmen. In Evan Osnos aber hat die Gattung der enzyklopädischen Momentaufnahme einen weiteren Meister gefunden.

Viele Töne, noch mehr Zwischentöne

Wenn es unter den Büchern der letzten Jahre eines gibt, das allein durch seinen Personalreichtum und den polyphonen Ansatz denkbar vielen Tönen und Zwischentönen gerecht wird, dann ist es „Große Ambitionen – Chinas grenzenloser Traum“. Auf gut 500 Seiten wagt Evan Osnos einen Spagat zwischen unmittelbarer Gegenwart und historischer Verankerung, empirischen Fakten und erzählerischer Kraft. Osnos, der von 2005 bis 2013 in Peking lebte, erst als Korrespondent der „Chicago Tribune“, dann als Reporter des „New Yorker“, verbindet Wissen aus erster und zweiter Hand im munteren Hin und Her von Abenteuergeist und Archivrecherche, die auch Berge von statistischem Material zutage fördert. Eine Leistung, die ihm 2014 einen National Book Award einbrachte.

Zwischen einer falschen Nachsicht mit den autoritären Strukturen des Landes und einer moralischen Selbstherrlichkeit des Westens, die in China nichts als einen Schurkenstaat sieht, will sich Osnos gar nicht erst entscheiden. „Große Ambitionen“ präsentiert die Erfahrungen eines unbestechlichen Beobachters, der die Menschen, denen er begegnet, für ihren Ehrgeiz, ihren Erfindungsgeist und ihr Beharrungsvermögen bewundert – und zugleich erkennt, wo das Unheil beim Höllenritt in die Moderne entsteht.

Neben Prolog und Epilog besteht das Buch aus drei Teilen, die mit „Wohlstand“, „Wahrheit“ und „Glaube“ überschrieben sind. Der erste beschäftigt sich mit der Verbesserung der Lebensbedingungen, die für Osnos zugleich mit einer politischen Ruhigstellung verbunden ist. Der zweite und umfangreichste widmet sich einer vor allem durch das Internet entstandenen Öffentlichkeit, die das Regime mit allen Mitteln von Propaganda und Zensur zu kontrollieren versucht, während mutige Bürger dennoch immer wieder Wege finden sich zu äußern – trotz Great Firewall und einer sich ausweitenden Überwachung. Der dritte Teil geht ein auf das spirituelle Vakuum, das mit der Kulturrevolution entstand, und beschreibt eindrucksvoll, welcher Hunger nach neuen philosophischen Ideen Chinesen heute umtreibt. Wer hätte gedacht, dass so auch Harvard-Philosoph Michael Sandel mit seinen Überlegungen zur Gerechtigkeit zum umjubelten Vortragsredner werden konnte?

Osnos schlägt einen weiten Bogen zwischen selbst in China unbekannten Helden des Alltags, prominenten Landleuten jeder – auch politischen – Couleur, und jenen Dissidenten, die zuweilen als authentischster Ausdruck des repressiven Staates gelten. Es gehört zu den goßen Vorzügen des Buchs, dass es dabei offen die Zerrissenheit abwägt, mit der es einerseits noch einmal ausführlich die Schicksale von Ai Weiwei und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo schildert, andererseits hingebungsvoll dem Schicksal eines gewissen Michael Zhang nachspürt, der mit selbst geschriebenen Englischlehrbüchern sein Glück zu machen versucht. Ihn hatte Li Yang angespornt, der mit seiner „Crazy English“-Methode 20 Millionen begeisterte, in kleinen Gruppen gemeinsam englische Vokabeln herauszuschreien.

Dichtende Straßenfeger, milliardenschwere Müllsammler

Außerdem begegnet man dem blinden Anwalt und Bürgerrechtler Chen Guangcheng, der nach Jahren des Hausarrests in die USA floh, dem berühmten Blogger Han Han, der reichen Online-Dating-Queen Gong Haiyan, deren Fragenkatalog er selbst zu beantworten versucht, der von der Müllsammlerin zur Verpackungspapiermilliardärin aufgestiegenen Cheung Yan, dem dichtenden Straßenfeger Qi Xiangfu oder dem desertierten Taiwanesen Yin Lifu, der sich schwimmend aufs Festland der Volksrepublik rettete und es bis zum Chefökonomen der Weltbank brachte. Ein Arsenal von Figuren, die teils in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederkehren und den Reportagekapiteln einen romanhaften Charakter verleihen.

„Wie viel“, fragt sich Osnos, „sagte das Leid tatsächlich über das Land aus? Ging man davon aus, dass ein durchschnittlicher Nachrichtenkonsument aus dem Westen nicht mehr als einen Bericht pro Woche über China las, sollten in diesen dann Menschen mit außergewöhnlichen oder mit normalen Leben im Mittelpunkt stehen? Das Komplizierteste an der Berichterstattung über China war nicht etwa, dass man sich an der autoritären Bürokratie vorbeischlängeln oder sich hin und wieder auf der Polizeistation einfinden musste. Es war vielmehr eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Wie viel des Schauspiels war hell und leicht und wie viel dunkel und bedrückend? Wie sehr sollte es um das Ergreifen neuer Möglichkeiten gehen und wie sehr um Unterdrückung?“

Bei einer utilitaristischen Abwägung sind die Ergebnisse eindeutig. Osnos zitiert eine Untersuchung, derzufolge die Lebenserwartung eines Chinesen im Jahr 1949 bei 36 Jahren lag, 2012 betrug sie 75 Jahre. Auch ist die Analphabetismusquote von damals 80 Prozent auf weniger als zehn Prozent zurückgegangen. Der Preis dafür liegt nicht zuletzt in einer unaufhaltsamen, staatlich geförderten Verstädterung – und in Umweltschäden, die bisher vor allem durch Korruption, Sorg- und Ahnungslosigkeit entstanden, künftig aber vermehrt aufs Konto eines steigenden Energiebedarfs gehen werden. Erst letzten Sonntag brach die Konzentration von PM2,5-Feinstaubpartikeln in Shenyang mit 1400 Milligramm pro Kubikmeter sämtliche dokumentierten Rekorde. In Peking erreichte sie mit rund der Hälfte den Jahreshöchststand.

Das Überzeugendste ist jedoch, dass Osnos sich seiner Rolle als Beobachter bewusst ist – und einmal sogar die Perspektive verkehrt, indem er eine chinesische Reisegruppe auf einer Bustour durch fünf europäische Länder begleitet. Eine zehntägige Tour de Force, die die Teilnehmer in einer Mischung aus Angst, Abgeschirmtheit und Hetze absolvieren, deren hochkomische Aspekte Osnos genüsslich ausbreitet. Warum sollen es eigentlich immer nur die Westler sein, die von anderen Kulturen nichts begreifen?

Die Halbwertszeit der in „Große Ambitionen“ versammelten Erkenntnisse mag begrenzt sein. Osnos selbst vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr man berichtend einem Wandel hinterherstolpert, der, einmal festgehalten, schon wieder die nächste Wendung nimmt. Er konnte beim Schreiben nicht wissen, dass Staatspräsident Xi Jinping ein neues Sicherheitsgesetz vorlegen würde, das der vorsichtigen Öffnung des Landes und der Entstehung zivilgesellschaftlicher Prozesse zuwiderläuft. Wer aber verstehen will, welche Unruhe und welchen Aufbruchswillen es dabei zu zähmen gilt, der findet in „Große Ambitionen“ reichen Aufschluss – ganz jenseits der Nachrichten von Börsencrashs, Tianjin-Explosionen oder Ai-Weiwei-Interventionen, die sonst als einziges durch die große westliche Desinteressemauer dringen.

Evan Osnos: Große Ambitionen. Chinas grenzenloser Traum. Aus dem Amerikanischen von Laura Su Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.

535 Seiten, 24,95 €.

Zur Startseite