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Adolf Hitler besichtigt beschlagnahmte Kunstwerke am 13. Januar 1938 im Berliner Viktoriaspeicher, hinter ihm Joseph Goebbels. Die konfiszierten Bilder aus der Wohnung des Kunsthändlersohns Cornelius Gurlitt dürfen aus rechtlichen Gründen nicht online gezeigt werden.

© bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich Hoffmann/dpa

Update

Große Meister, neue Werke: Auswertung des Münchner Sensationsfunds wird Jahre dauern

Dix, Chagall, Matisse: ein erster Blick auf die konfiszierten Bilder aus der Wohnung Gurlitt. Nun müssen alle Werke identifiziert und deren Herkunft geklärt werden. Am Mittwoch wurde bekannt, dass einige Bilder nach Kriegsende von den Alliierten beschlagnahmt wurden.

Muss die Kunstgeschichte umgeschrieben werden angesichts des immensen Münchner Bilderfunds, beginnt sich mancher bereits zu fragen. Zwei Werke von Otto Dix – ein Selbstbildnis mit Pfeife sowie eine Farblithografie von 1923 mit dem Modell „Leonie“ darauf–, eine Zeichnung von Franz Marc, ein bislang unbekanntes Werk von Marc Chagall befinden sich unter den Bildern. Für sich genommen sind sie eine Sensation, wenn sie auch kaum eine Überraschung innerhalb des Werks des jeweiligen Künstlers darstellen. Einen ersten Eindruck von den Trouvaillen vermitteln die Werke, welche die Berliner Kunsthistorikerin Meike Hoffmann gestern in Augsburg vorstellte.

Der Kurzfristigkeit des Termins ist die mangelnde Qualität der Präsentation geschuldet – noch fehlt eine fotografisch einwandfreie Dokumentation. Auf eine Saalwand projiziert, sind die Motive nicht immer genau zu erkennen, teilweise sind die Ränder beschnitten. Dennoch ahnt man, in welchen Dimensionen sich das Forschungsunternehmen der Berliner Expertin bewegt und welches Ausmaß die rechtlichen Auseinandersetzungen um Cornelius Gurlitts Sammlung haben werden. Selbst wenn die Schätzungen von einer Milliarde Euro überhöht sein dürften.

Alliierte beschlagnahmten offenbar mehr als hundert Werke

Einige der Kunstwerke wurden offenbar nach Kriegsende von den Alliierten beschlagnahmt und von diesen von 1945 bis 1950 verwahrt. Das schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ unter Berufung auf ihr vorliegende Dokumente. Der „SZ“ zufolge gibt es Protokolle der Alliierten, die diese zu den Befragungen von Hildebrand Gurlitt zu dessen Rolle im Dritten Reich anfertigten. Eine an diese Protokolle angehängte Liste gibt demnach Auskunft über Gurlitts mehr als hundert Einzelwerke umfassende Privatsammlung, die zu diesem Zeitpunkt in einer Wiesbadener US-Sammelstelle eingelagert war. Darauf eingetragen seien offenbar auch einige der am Dienstag in Augsburg präsentierten Werke, darunter das bislang unbekannte Selbstbildnis von Otto Dix und das Gemälde „Zwei Reiter am Strand“ von Max Liebermann sowie die Gouache von Marc Chagall. Laut dem Zeitungsbericht forderte Hildebrand Gurlitt die Werke mit Erfolg von den Alliierten zurück. Bis auf zwei Bilder sei ihm seine angebliche Privatsammlung 1950 zurückgegeben worden.

Gezeigt wurde in Augsburg unter anderem eine mit Deckfarbe und Tusche auf Papier gebrachte Pferdezeichnung Franz Marcs. Sie stammt offensichtlich aus der letzten Schaffensphase des Künstlers, der 1916 als Soldat bei Verdun fiel. Ab 1910 hatte er eine eigene Mischung aus Fauvismus, Kubismus, Orphismus entwickelt; Tiere wurden zu seinem wichtigsten Motiv. Legendär ist das seit 1945 verschollene Werk „Der Turm der blauen Pferde“ von 1913. Das nun vorgestellte Bild stammt aus dieser Serie. Es zeigt eine Herde Pferde, die auf einer Wiese grast und mit der Landschaft fast verschmilzt.

Unbekannter Chagall dürfte die Händler freuen

Auch der unbekannte Chagall dürfte die Händler erfreuen, sollte er auf den Markt kommen. Das Gemälde könnte aus jenem Konvolut stammen, das der russische Künstler dem Sturm-Galeristen Herwarth Walden vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Berlin hinterließ, möglicherweise auch aus der Phase Anfang der Zwanzigerjahre, als er vorübergehend wieder in der deutschen Hauptstadt weilte. Eine träumerische Szene, ein sich küssendes Paar vor einer Bühne – Innen- und Außenraum gehen ineinander über, wie es für Chagall typisch ist.

Über viele Bilder wird es erst nach und nach Gewissheit geben, Verlustlisten müssen abgeglichen, Kataloge herangezogen werden. So ist bislang auch noch nicht eindeutig geklärt, ob es sich bei der schönen Sitzenden mit floral gemusterter Bluse und Fächer tatsächlich um einen Matisse handelt. Einiges weist darauf hin, unter anderem der Einsatz farbenfreudiger Draperien zur Gestaltung des Interieurs.

Komplizierte Rückgaben stehen an

Anders verhält es sich mit dem „Musizierenden Paar“ von Carl Spitzweg, das von der Familie des jüdischen Sammlers Henri Hinrichsen schon kurz nach Kriegsende als vermisst gemeldet worden war. Als Fahnder sich bei der Witwe des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt in den Sechzigern erkundigten, erklärte sie, das Bild sei während des Feuersturms in Dresden verbrannt. Eine Lüge, wie man heute weiß. Obwohl das Werk nun eindeutig identifiziert ist und dessen einstige Besitzer bekannt sind, wird sich eine Rückgabe kompliziert gestalten. Denn nach wie vor ist Cornelius Gurlitt Erbe des väterlichen Kunstbestands und damit rechtlicher Besitzer der Werke. Schon melden sich die ersten Nachfahren jüdischer Sammler aus den USA.

Gewiss werden auch schon bald Ansprüche auf dem Holzschnitt „Melancholisches Mädchen“ von Ernst Ludwig Kirchner angemeldet. Wie bei Liebermanns „Reitern am Strand“ nennt die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann hier präzise den Titel, es konnte offensichtlich zugeordnet werden. Kirchner gehörte zu den Künstlern, die besonders schwer unter der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ litten. Nachdem seine Werke aus öffentlichen Sammlungen entfernt, verkauft oder zerstört worden waren, nahm sich der „Brücke“-Maler 1938 das Leben. Die Wiederkehr seines Werks an den ursprünglichen Ort würde eine Wiedergutmachung in vielerlei Hinsicht bedeuten. Einstweilen aber bleibt es wie Canalettos Landschaftsbild mit Stadtsilhouette an unbekanntem Ort in Gewahrsam. (mit AFP)

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