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Gründe des Horrors: Was die Literatur über die norwegische Gesellschaft verrät

Jede Gesellschaft hat die Kunst, die Literatur, von der die Menschen sich nicht vorstellen können oder mögen, aus welchen Tiefen und Untiefen sich das speist. Gewaltorgien, Porno, Pose: der Autor Matias Faldbakken und sein brutales Menschenbild.

So geschieht es, und man ist fassungslos. Ein Ausbruch bestialischer Gewalt in einem europäischen Land, das man mit Erdölreichtum, herrlicher Natur, Hurtigrouten und olympischen Winterspielen assoziiert, und man glaubt, es habe vor der eigenen Haustür eingeschlagen. Aus dem „Nichts“, wie es in ersten Analysen heißt, sei Anders Breivik, der Attentäter von Oslo gekommen, und gleichzeitig kommt er aus einer unauffälligen Normalität, aus der „Mitte der Gesellschaft“, wie es so schön heißt. Norwegen ist ein kleines Land. Mitte und Rand dürften da nicht allzu weit auseinanderliegen.

Es beginnt die Suche nach Abgründen, Milieus, nach Rissen in der Zivilisation. Nach dem Amoklauf von Winnenden hat man sich mit Schützenvereinen und Waffengesetzen beschäftigt. Regelmäßig taucht in solchen Situationen die Frage auf, ob brutale Computerspiele Auslöser oder Wegbereiter des Bösen sein können. Das Böse hat in westlichen Gesellschaften viele Gesichter, viele Namen, es ist letztlich namenlos, gesichtslos. Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Fundamentalismus, ob christlich oder islamistisch geprägt – es sind Hilfsbegriffe, hinter denen sich ein ganzes Bündel von Motiven, Verirrungen, Entwicklungen verbirgt.

Das Unfassbare schreit nach Antworten, Gründen. Norwegens bekanntester zeitgenössischer Künstler, der 1973 geborene Matias Faldbakken, drängt sich dabei auf – mit seinen Büchern, die vor Brutalität, Trash, Irrsinn und gewalttätigem Klamauk bersten. „Die große norwegische Menschenverachtungsbibel“, so hat eine deutsche Zeitung Faldbakkens Romane genannt. Faldbakken ist ein Bestsellerautor, auch bei uns viel gelesen. Um das Jahr 2000 veröffentlichte er „The Cocka Hola Company“: eine Gruppe von Pornofilmern attackiert den skandinavischen Frieden. Im zweiten Teil seiner Hass-Trilogie, „Macht und Rebel“, türmen sich Ressentiments, faschistische Rhetorik. Inkorrektheit um jeden Preis, Splattermovie-Ästhetik, Heavy-Metal-Schreibe: der Autor in der Pose des erbarmungslosen intellektuellen Provokateurs. Es ist Literatur, Pop-Literatur, die Tradition hat. Faldbakken bewegt sich zwischen dem Amerikaner Bret Easton Ellis („American Psycho“) und dem Franzosen Michel Houellebecq, allerdings auf einer weit primitiveren Ebene. In den exzeptionellen Angriffen auf die sogenannte Spaß- und Konsumgesellschaft gibt es einen genüsslich präsentierten totalen Kollateralschaden: Freiheit, Demokratie, Toleranz werden gleich mit weggefegt.

Inkorrektheit um jeden Preis. Gegen Freiheit, Toleranz und Demokratie

Auch der norwegische Weltdramatiker Henrik Ibsen polarisierte im späten 19. Jahrhundert die bürgerliche Gesellschaft. Ehe, Familie, Sterbehilfe, Finanzmoral: Ibsens Vivisektionen belebten, befreiten, definierten den Menschen der Moderne. Dies Menschenbild war noch mit einem Fortschrittsglauben verbunden, der inzwischen abhanden gekommen ist. Faldbakken porträtiert keine Menschen mehr, sondern Comicfiguren. In Edvard Munchs millionenfach reproduziertem Gemälde – der Schrei auf der Brücke – scheint die Massenkultur mit ihrer Anonymität und Zeichenhaftigkeit schon angelegt. Munch ist zur Ikone, zum Klischee geworden.

„Unfun“, Faldbakkens dritter Roman, auf Deutsch 2010 erschienen, mischt feministische Kotzbrocken mit Kindermord, endlosen Vergewaltigungsszenen. Ein Typ namens Slaktus, Bodybuilder, der sich selbst als „Gewaltintellektueller“ tituliert, arbeitet an einem Slasher-Game, das Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ ausbeutet: Ein Afrikaner geht durch Paris und metzelt nieder, was ihm in den Weg kommt.

2005 hat Matias Faldbakken sein Land auf der Biennale in Venedig vertreten. Er gilt als vielfach begabter Künstler. Seine Arbeiten werden überall in der Welt gezeigt und geschätzt. Zu der Ausstellung „War after Peace (after War)“ im vergangenen Jahr ließ der Neue Aachener Kunstverein verlauten: „Faldbakkens provokative Kunst bricht mit gesellschaftlichen Konventionen und formuliert eine radikale Anti-Haltung gegenüber herrschender Populärkultur. Auf jeden Frieden folgt Krieg, auf jeden Krieg Frieden. Diese scheinbar lapidare Feststellung enthüllt ein dauerhaft latent schwelendes Aggressionspotenzial. Faldbakkens Arbeiten legen dieses Aggressionspotential mit konfrontativen Gesten, Irritationen und Sackgassen offen.“

Mit Beklemmung liest man dieses Kuratorensprech. Und dann wird es unerträglich, hat es eine Wirkung, wovon Faldbakken und seine Figuren ja träumen: Denn entweder besitzt die Kunst seismographische Kräfte, spürt und sieht etwas voraus, dann ist auch nichts gewonnen. Weil keine Ausstellung, kein Buch eine Tragödie verhindern kann. Oder die Kunst spielt mit dem Entsetzen und ist billige Aufgeilerei – und sie wird von den realen Geschehnissen überholt, zerschreddert. Die dritte Möglichkeit wird oft von Moralisten in die Diskussion geworfen: dass Gewaltfantasien enthemmend wirken, aufputschend und Ideen liefern und vorhandene Neigungen bekräftigen.

Die Literatur schöpft vorhandene Millieus aus. Sie erfindet nicht nur

Auch darauf gibt es keine haltbare Antwort, und vielleicht ist schon die Frage falsch gestellt. Richtig aber ist: Einer wie Faldbakken denkt sich seine Sachen nicht bloß aus. Er weiß oder ahnt, wovon er in seiner Rollenprosa schreibt. Es ist etwas vorhanden. Es kommt nicht aus dem Nichts, dass das Unfassbare geschieht. Es kommt nicht darauf an, ob Anders Breivik solche Bücher gelesen hat; angeblich interessierte er sich für Kafkas „Prozess“, er gilt, was immer das heißt, als „belesen“. Betrachtet man die Fotos, die er ins Netz gestellt hat, fällt ein hoher Grad an Narzissmus auf, die blitzsaubere, tiefkalte Selbsttheatralisierung eines nordischen Machotyps. Faldbakken hat solche Monster beschrieben.

Jede Gesellschaft hat die Kunst, die Literatur, von der die Menschen sich nicht vorstellen können oder mögen, aus welchen Tiefen und Untiefen sich das speist. In „Unfun“ heißt es: „Was ist ein Skandinavier? Ein Skandinavier ist eine Person, die täglich in der Spannung zwischen zwei ihrem Wesen nach verschiedenen Gefühlen lebt: dem Gefühl von Unverletzlichkeit: Nichts kann mir schaden (von dem, was ich im Fernsehen sehe) – und dem Gefühl von Unzulänglichkeit: Ich habe keinen Einfluss (auf das, was im Fernsehen kommt). Im Prinzip ist das ein transnationaler Mittelklassezustand, aber in Skandinavien kann dieser Zustand als vollendet angesehen werden.“

Zu Ende gedacht, heißt das doch nur: Die westlichen Gesellschaften haben einen fürchterlichen, kaum zu stellenden Feind – sich selbst.

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