zum Hauptinhalt
Erwin Piscators Uraufführung von Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ 1965 an der Freien Volksbühne mit (v.l.) Hilde Mikulicz, Horst Niendorf und Martin Berliner.

© ullstein bild

Günther Rühle: "Theater in Deutschland 1945-1966": Rückkehr der Riesen

Günther Rühle arbeitet in einem monumentalen Erinnerungsband gegen die grassierende Gedächtnislosigkeit des zeitgenössischen Theaters an - und schreibt die Geschichte des "Theaters in Deutschland 1945-1966“.

Keiner arbeitet heute noch so heftig, tiefschürfend, aufstemmend im riesigen Steinbruch der Theatergeschichte wie der in diesem Jahr 90 Jahre alt gewordene Günther Rühle. Dabei gleicht er einer Mischung aus Sisyphos und Herkules. Oder einem Alexander von Humboldt der deutschen Bühnenhistorie, der unermüdlich sichtet, sammelt, notiert, der einen eigenen Kosmos des Wissens erschafft.

Wir erinnern uns: Im Frühjahr 2007 hatte Günther Rühle schon sein „Theater in Deutschland“ vorgelegt. Das waren 1283 Seiten mit über 2000 Fußnoten im Anhang – und der Untertitel des mächtigen Buchs benannte schlicht nur den Handlungszeitraum „1877–1945“, mit dem aufs deutsche Theater bezogenen Zusatz „Seine Ereignisse – seine Menschen“. Jetzt, sieben Jahre später, präsentiert Rühle tatsächlich die Fortsetzung, mit dem nämlichen Hinweis auf die Ereignisse und Menschen. Was bedeuten soll: Hier geht es nicht um akademische Theorie oder die schiere Dokumentation. Vielmehr will der ehemalige Theaterkritiker und Ex-Feuilletonchef der FAZ und des Tagesspiegels erzählen, will das Ereignishafte nochmals beschwören, von den Theatermenschen, die er häufig selbst noch erlebt hat, ein Bild ihrer Gedanken und Spiele geben.

Und das, wie beim ersten Band, wieder ohne ein einziges Foto. Stattdessen 1519 Dünndruckseiten Text, mit diesmal 2310 Anmerkungen nebst detaillierter Zeittafel. Wer aber meint, dass dies alles nun bis in die Gegenwart, mindestens aber bis zur Jahrtausendwende reiche, den bescheidet der Autor im Untertitel schlicht mit den Jahren „1945–1966“. Plant Günther Rühle etwa noch einen dritten Band? Nein, er sagt uns – gesprächsweise, nicht im Buch –, dass er sich nicht „in die näheren Untiefen“ habe begeben wollen. Nicht dorthin, wo zu viele alles besser wüssten, als jüngere Kritiker, als eigene Augenzeugen. Rühle möchte die Restdistanz des Historikers. Aber weil sein Buch doch die Zeitgeschichte betrifft, versucht er zumindest den Vorschein der Zukunft (nach 1966) am Ende mit leuchten zu lassen.

Schon ist in den 60er Jahren im Westen der Kulturumbruch der Studentenrevolte im Gang. Peter Zadek, ein aus dem englischen Exil zurückgekehrter Berliner, fegt zusammen mit Bühnenbildner Wilfried Minks in Bremen alles Kulissentheater von der Szene, lässt Schillers „Räuber“ vor Lichtensteins Kriegs-Comics rebellieren, und da sind auch schon die späteren Schaubühnenhelden Bruno Ganz, Edith Clever oder Jutta Lampe mit im Spiel. 1966 zeigt ein gewisser Claus Peymann auf der Frankfurter „Experimenta“ Peter Handkes popmotziges Sprechstück „Publikumsbeschimpfung“, ein gewisser Peter Stein ist in München der Assistent von Fritz Kortner, einem der drei wichtigsten Nachkriegsrückkehrer im ost-westdeutschen Theater. In Rühles Schlussjahr 1966 stirbt Erwin Piscator, der zweite große, von den Nazis ausgebürgerte Theatermacher der Weimarer Republik, der im Vorjahr noch an der von ihm geleiteten Freien Volksbühne in West-Berlin „Die Ermittlung“ von Peter Weiss uraufgeführt hatte. Das auf dem Frankfurter Auschwitz-Prozess beruhende epochale Oratorium war für Weiss das dokumentarpoetische Inferno, anstelle eines geplanten Stücks über Dantes Höllen- und Himmelskreise.

Rühle zeigt die Spannungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten, aber auch das Verbindende der Theaterkultur

Erwin Piscators Uraufführung von Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ 1965 an der Freien Volksbühne mit (v.l.) Hilde Mikulicz, Horst Niendorf und Martin Berliner.
Erwin Piscators Uraufführung von Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ 1965 an der Freien Volksbühne mit (v.l.) Hilde Mikulicz, Horst Niendorf und Martin Berliner.

© ullstein bild

Der dritte Emigrant und Wegweiser ins deutsche Theater und das der Welt nach 1945 war natürlich Brecht. Er starb bereits 1956, und sein im eigenen Berliner Ensemble gipfelnder Wiederbeginn nach der Rückkehr aus amerikanischem Exil macht ihn zu einem der Hauptdarsteller dieser persönlichen, von Bildung und bildhaften Schilderungen geprägten Chronik des deutschen Nachkriegstheaters. Die Spannung zwischen den beiden Teilstaaten und das Verbindende der Theaterkultur wird da immer wieder deutlich mit Blick auf die Berliner Szene(n). Doch greift Rühle auch nach Darmstadt oder Dresden, Köln, München, Düsseldorf, Hamburg oder Leipzig aus, genauso wie Wien, Zürich und Basel in den deutschsprachigen Theaterkosmos gehören.

In Rühles Schlusskapiteln rund um die Paarung „Ende und Anfang“ zeigt beispielsweise Benno Besson mit seinen Ost-Berliner Inszenierungen schon erste Aufbruchzeichen in der DDR, den Erstarrungen nach Brechts Tod und dem Mauerbau trotzend. Auch ist zuvor bereits viel die Rede von Brechts Erbe (und Überwinder) Heiner Müller und dann auch vom jungen Peter Stein. Doch stammt dessen erste, sogleich furiose Inszenierung in München (das damalige Skandalstück „Gerettet“ von Edward Bond) aus dem Jahr 1967, wie auch das erwähnte Regiedebüt des genialischen Klaus Michael Grüber. Warum Rühle seine Zäsur also schon 1966 setzt und nicht etwa 1970 (Kortners Tod), oder gar einen Epilog bis zur Wiedervereinigung 1989/90 wagt, ist nicht leicht zu erklären. Zumal Piscators Weg als Scheidemarke für Rühles große Erzählung kein Leitmotiv ergibt.

Vielleicht haben ihn die Materialfülle und das eigene Wissen schlicht abbrechen lassen. Am Ende einer unendlichen Geschichte – in der Günther Rühle immerhin eine Panoramafülle und einen Motiv- und Personenreichtum bietet wie noch kein anderer bisher. Während das zeitgenössische Theater mit einer grassierenden Gedächtnislosigkeit zum Durchlaufverkalker wird, erinnert Rühle an Schauspieler, Dramatiker, Stücke und Inszenierungen: von Wolfgang Borchert oder Friedrich Wolf bis Frisch, Dürrenmatt und Zuckmayer, von Jürgen Fehling bis Rudolf Noelte, von Horst Caspar über Maria Wimmer oder Helene Weigel bis zum ersten Zauber eines Oskar Werner.

Man lese auch, was heute ganz Vergessene bedeutet haben, beispielsweise: der Dramaturg und spätere Züricher Theaterdirektor Kurt Hirschfeld. Er war, so Rühle, „der eigentliche Gründer des deutschen Exiltheaters in der Schweiz“, ein „deutscher Jude, der Kopf, der Menschensammler, der denkende Dramaturg, der epochemachende Arbeiter“ (für Brecht, Therese Giehse, Leonard Steckel, Wolfgang Langhoff, für den jungen Max Frisch). Friedrich Dürrenmatt hielt im November 1964, vor 50 Jahren, auf Hirschfeld die Totenrede. Ein Memento.

Rühle schildert, wie das deutschsprachige Theater als Symbol einer kulturellen Wiedergeburt nach 1945 aus moralischen und baulichen Ruinen überraschend schnell erstanden ist. Mal nachdenklich neu, mal traditionell professionell, fast immer idealistisch, dabei nicht selten auch opportunistisch (das klingt bei Rühle nur an) – ein Spiegel der Zeit. Das macht diese umfängliche Geschichte zum Erinnerungsbuch, das jetzt vor der Wende zum 70-jährigen Gedenken an das Finale der Barbarei, ans Ende von Krieg und NS-Diktatur einmal geschrieben werden musste und so nur von einem wie Rühle geschrieben werden konnte.

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1945–1966. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014, 1519 Seiten, 46 Euro

Zur Startseite