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Kultur: Gut und Böse Ein offener Brief an Jürgen Habermas

Hochverehrter, lieber Herr Professor Habermas! Darf ich voranschicken, dass ich, seit ich zu lesen verstehe, Ihre Texte sorgfältig zur Kenntnis nehme.

Hochverehrter, lieber

Herr Professor Habermas!

Darf ich voranschicken, dass ich, seit ich zu lesen verstehe, Ihre Texte sorgfältig zur Kenntnis nehme. Ich würde mich sogar als Habermasianer bezeichnen. Ihr wunderschönes Paradox vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ – es ist zum Sprichwort geworden – ist für mich ein geltendes Postulat des herrschaftsfreien Diskurses. Besonders gefallen mir Ihre sorgfältigen Kommentare zu Immanuel Kant, der mein Säulenheiliger ist, auch nach Nietzsche, Wittgenstein und Foucault.

Vor ein paar Monaten führte ich ein Telefongespräch mit einem Tagesspiegel-Leser, der mich aufgrund einer Rezension Ihres neuen Buches anrief, um Details zu erfahren. Er saß mit Ihnen vor über einem halben Jahrhundert im Bonner Seminar. Der Leser war durchaus ein Freund Ihrer Philosophie. Aber er erzählte mir auch, dass Sie oft ungeduldig mit Menschen waren, die weniger als Sie gelesen und verstanden haben – um es vorsichtig auszudrücken. Sicher, Sie waren sehr jung damals und moralisch nicht gefestigt, wie man zu sagen pflegt. Die Diskursethik hatten Sie ja noch nicht entwickelt und beschäftigten sich mit dem Ex-Nazi Heidegger – in sehr verdienstvoller Weise.

Ich glaube aber dennoch nicht an die Anekdote, die Joachim Fest in seiner Autobiografie erzählt, dass Sie einmal einen Zettel mit für Sie belastendem Material aus der Nazizeit verspeist hätten. Aber ich glaube inzwischen, dass in Ihrer Philosophie – nicht in Ihnen! – ein totalitärer Kern schlummert. Solange er schlummert, ist alles in demokratischer bzw. diskursethischer Ordnung. Was aber ist dieser Kern und schlummert er wirklich noch?

Das sind Fragen, die sich unter Verwendung einer Glosse, die die höchste journalistische Gattung ist, nicht hinreichend klären lassen, wohl jedoch in einem Briefwechsel. Aber wenn Sie jetzt mit Ihrem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. Mai die Journalistenehre und das Journalistenethos fundamental angreifen und behaupten – ich darf Ihre Thesen pointieren – dass das freie Spiel der Ökonomie die freie Berichterstattung, das freie Kommentieren und Meinen korrumpiere und eine „pragmatische“ Verstaatlichung vorschlagen, dann muss ein Journalist, der der Ausbildung nach durchaus Philosoph ist, mit aller Kraft widersprechen.

Das, was Sie vorschlagen, passiert zurzeit in Russland mit einem ganz anderen existenziellen Ernst, als Sie es sich am Starnberger See vorstellen können. Man hat den Eindruck, liest man Ihren Text und hat Ihren „Strukturwandel der Öffentlichkeit im Kopf“, Sie seien der Pressesprecher von Vladimir Putin, dem lupenreinen Demokraten, wie ein Kanzler „Ihrer“ Partei einmal sagte.

In Fragen der Moral, hochverehrter Herr Habermas, kommt es nur auf den Einzelnen an, nicht auf das „System“. Schon in den achtziger Jahren prophezeiten Sie den Untergang der Demokratie durch das Privatfernsehen. Sie hatten unrecht. Ich hoffe inständig, dass das gnostische Schema von Gut und Böse, dass Sie leichtfertig auf Liberalismus und Neoliberalismus anwenden, nicht zur Ideologie wird, die sich irgendwann auf Sie beruft. Das kann Philosophen, die in der Öffentlichkeit wirken, leicht passieren (siehe Nietzsche).

In tiefer geistiger Zuneigung, Ihr

Marius Meller

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