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Kultur: Guter Stoff

Wie die ehemalige Textilstadt Nordhorn mit den Folgen der Globalisierung klar kommt

Man muss in die Provinz fahren, um nachzusehen, wie Deutschland nach der Globalisierung aussehen könnte. Wie es sich anfühlt, das Leben nach den Jahren als Exportweltmeister von Arbeitsplätzen. Nordhorn ist da eine gute Adresse. Der Sturm des Wandels ist längst hindurchgefegt durch das norddeutsche Städtchen an der holländischen Grenze, in dem zu Glanzzeiten mehr als 11 000 Menschen in den Textilfabriken arbeiteten, die heute nur noch eins sind: Industriedenkmäler. Man mag Textilindustrie langweilig finden und die Provinz öde. Doch dieses Nordhorn hat eine Geschichte zu erzählen, die bald auf Tournee gehen könnte – nach Rüsselheim, Sindelfingen oder Wolfsburg.

Da ist zunächst einmal die Firma Nino. Sie steht in dieser Geschichte stellvertretend für die gesamte Branche, von der eine Stadt jahrzehntelang gelebt hat. Nino ist eine echte Wirtschaftswunderstory. Aus der Provinz heraus wuchs ein Konzern heran, der die Welt mit Stoffen belieferte. Ein Konzern, für den Karl Lagerfeld Entwürfe zauberte. Der noch in den 80er Jahren jedes Jahr so viel Stoff produzierte, dass man damit ein zwei Meter breites Band einmal um den Erdball schlingen konnte. Wer alt genug ist, wird sich an den Ninoflex-Mantel erinnern, den Edeltrenchcoat der 70er. Den Vorläufer von Sympatex. Wem diese Marken nichts sagen, der kann sie auch gleich wieder vergessen, und der muss auch die Namen der anderen Firmen aus Nordhorn nicht mehr lernen. Rawe etwa oder Povel. Diese Königreiche sind versunken.

Doch Nordhorn gibt es immer noch, und man kann nicht sagen, dass hier nur Depression herrscht. Reich waren die Menschen hier nie, aber dafür gibt es so viele Familien mit eigenem Haus wie sonst kaum in der Republik. Grundstücke sind billig, und in den neuen Wohngebieten wird fleißig gebaut. Das Kinoprogramm ist dürftig, das Nachtleben nicht nennenswert. Die Nordhorner bleiben eher zu Hause. Die Heimwerkermärkte sind groß, und wer Blumen und Sträucher braucht, fährt ins nahe Holland. Ein Leben irgendwo im weiten Feld zwischen Idyll und Spießigkeit.

Die Maschinen, die früher kilometerweise Stoff produzierten, laufen heute nur noch ab und an in der Museumsfabrik. Das ist nicht nur Nostalgie. Hier kann man am besten sehen, wie die Textilindustrie zum Paradefall der Globalisierung wurde. Gerhard Kock, der frühere Leiter der Weberei, zeigt das an einer ziemlich revolutionären Maschine, die von heute auf morgen drei andere Maschinen in der Spinnerei ersetzte. Rotormaschine heißt sie. Was sie genau macht, ist nicht so wichtig, nur dass alles das, was früher das Wissen der Textilarbeiter erforderte, ab sofort ein elektronisches Hirn erledigte. Triumph der Technik. Schmach für das Handwerk. „Wie die Maschine zu bedienen ist, kann ich jedem Menschen in vier Stunden beibringen“, sagt Kock. Facharbeiter sind nicht mehr nötig. Was man braucht, ist nur noch ein einziger Elektroniker für eine ganze Halle mit solchen Apparaten. Falls so eine Maschine mal ausfällt. Ansonsten kann das Ding an jedem Platz der Welt laufen.

Man darf diesen absurden Wettlauf der Technik, in dem sich der Fachmann irgendwann selbst überflüssig gemacht hat, nicht übersehen. In den 70er Jahren wollte Nino selbst von der Entwicklung profitieren. Das Spinnen von Garnen wurde in das damalige Billiglohnland Irland verlagert. Kock war vor Ort. „Ein einziges Desaster“, sagt er. „Das waren Bauern, die mit dem Traktor zur Arbeit fuhren. Heraus kamen nur Verluste.“ Die Maschinen waren noch zu kompliziert. Erforderten zu viel Wissen. Kinderkrankheiten der Globalisierung. Als die Maschinen fit genug waren, um überall in der Welt zu laufen, war kein Geld mehr da für die Expansion. Nun versuchte Nino wenigstens noch einen kurzfristigen Vorteil aus dem absehbaren Export von Arbeitsplätzen zu schlagen. Gegen gute Bezahlung halfen Nino-Fachleute Firmen aus Osteuropa und Südostasien, ihre Fabriken rasch auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Dass die Nordhorner auf diese Weise am Baumwollfaden rissen, an dem sie selbst hingen, war ihnen bewusst. Doch sie wussten keinen anderen Ausweg.

Nun ist es abgebrannt, das Wunderland. Ersatzlos gestrichen. Zwar gibt es in Nordhorn einen ganz ordentlich aufgestellten MittelstanWd und profitiert die 50 000-Einwohner-Stadt von der Nähe zur Grenze, doch die Hoffnung, irgendwann einmal wieder Hochburg einer Branche zu sein, haben die Nordhorner längst aufgegeben. Früher, da nannte sich der Ort stolz „Textilstadt im Grünen“. Doch mittlerweile wuchert das Grün auch dort, wo früher produziert wurde. „Klein-Amerika“, den Namen hatte sich Nordhorn auch mal zugelegt, als die Stadt Gastarbeiter anzog und viele kamen, um ihr Glück zu machen. Doch heute liegt die Arbeitslosenquote in der Stadt bei mehr als 13 Prozent. Die Nordhorner haben ihre Lektion gelernt. Und die heißt schlicht und einfach: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

Niemand weiß das so gut wie Ralf Hilmes, der im Rathaus für Wirtschaftsförderung zuständig ist. Ein langer Schlacks mit wuscheligem Haar. Keiner, der Werbephrasen drischt. Natürlich ist auch der 39-Jährige immer für Ansiedlungen von neuen Firmen zu gewinnen, verscherbelt er Gewerbegebiete zum Preis von zehn Euro pro Quadratmeter und kann er auch wunderbar alle Standortvorteile herunterbeten. Nahe Autobahn. Niedrige Löhne. Jede Menge Platz. Doch warum sollte es jemanden ausgerechnet nach Nordhorn ziehen? Da hilft es auch nicht, dass der Wirtschaftsförderer früher Schiedsrichter in der Fußball-Bundesliga war und zwei Meter 20 groß ist.

Hilmes hat anderes vor mit der Stadt, und das hängt auch damit zusammen, dass diese Geschichte, die heute in Nordhorn spielt, bald auch anderswo zu erleben sein wird. „Die Menschen werden in den nächsten Jahren mit weniger Geld auskommen müssen“, sagt Hilmes. „Das wird sich auch beim Urlaub bemerkbar machen.“ Und wenn Nordhorn schon industriell nicht mehr viel zu bieten hat, ruhig ist es hier immer, verdammt ruhig, die Luft ist sauber und Grün, wie gesagt, gibt es mehr, als einem Wirtschaftsförderer lieb sein kann. Nordhorn ist aber auch billig, eine der Städte mit den niedrigsten Lebenshaltungskosten in Westdeutschland. Das alles zusammengenommen, sagt Hilmes, seien ideale Voraussetzungen für einen Tourismus, der die Leute anspricht, die sparen müssen. Einen Versuchsballon hat er schon einmal gestartet. An einem See in der Innenstadt hat die Stadt einen Campingplatz gebaut. „Der ist im Sommer immer voll. Die Leute kommen zwei, drei Tage, spannen aus und ziehen weiter.“ Auch so kommt Geld in die Stadt.

Billig und ruhig und grün allein, das reicht auf Dauer aber nicht aus. So kommt auf verschlungene Weise wieder die Textilindustrie ins Spiel. Überall in der Stadt stehen imposante Fabrikgebäude, Wahrzeichen einer Industrie, die sich ewig wähnte. Dieses Erbe sollte die Stadt nutzen, um auch kulturell ihren Besuchern etwas zu bieten, sagt der Leiter des Stadtmuseums, Werner Straukamp. Vielleicht ist es nicht jedermanns Sache, sich in der Museumsfabrik von Gerhard Kock erklären zu lassen, wie aus fusseliger Baumwolle ein fester Zwirn wird, aber Textil bedeutet auch Mode, und das könnte doch ein Publikumsmagnet werden. Straukamp hat eine ganze Menge kleiner Schätze zu bieten. Zeichnungen von Lagerfeld. Modefotos von Helmut Newton. Die deutsche Nationalmannschaft, eingekleidet in Nino-Stoff. Drei Jahrzehnte deutscher Mode wurden in Nordhorn mitbestimmt. Und manches sieht, wie die Mode nun mal ist, dem neuesten Schrei von H&M verflucht ähnlich.

Du hast keine Zukunft, also nutze die Vergangenheit. Ganz früher war die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt der Binnenschifffahrt. In den 70er Jahren wurden die Kanäle teilweise einfach zugeschüttet, weil da der Bau von Umgehungsstraßen wichtiger war. Jetzt feuert die Lokalpresse die Stadt an, die Wasserstraßen wieder freizulegen, um Wassersportler anzulocken. Das Ganze läuft unter dem Titel „Klein-Venedig“, von dieser Vergleichmentalität ist die Stadt nicht abzubringen. Hilmes gerät bei dieser Vision ins Schwärmen. Er will es auch nicht klein haben, sondern eher groß. „Wasserstadt Nordhorn“, sagt er, „damit hätte man dann auch wieder etwas, womit man werben könnte.“

Acht Jahre ist es her, dass die größte Firma am Ort, der besagte Textilriese Nino, die Produktion endgültig dicht machte. Doch bis zur Wasserstadt ist es noch ein weiter Weg. Nicht nur müssten Brücken neu gebaut werden, vor allem ist die Stadt immer noch dabei, mit dem Erbe der Textilindustrie fertig zu werden. Die Böden, auf denen die Fabriken standen, sind verseucht, voller Gift, das auch schon mal ins Grundwasser sickern kann. Zurzeit steht ein großes Sanierungsprojekt an. Doch hat Nordhorn mittlerweile Erfahrung mit solchen Dingen, und auch das ist auf kuriose Art zu einem Markenzeichen des Standorts geworden. Nach der ersten Pleite einer der großen Textilfabriken wurde die Stadt quasi über Nacht in eine Vorreiterrolle katapultiert, was die Beseitigung von solchen Industrieschäden anging. Statt die verseuchte Erde abzutragen und in einer Deponie sich selbst zu überlassen, ließ die Stadt ein großes Areal biologisch reinigen. Bakterien fraßen sich jahrelang durchs vergiftete Erdreich, Schicht um Schicht wurde abgetragen, umgelagert und wieder eingefüllt. Ein langwieriger Prozess, der sich für die Stadt aber bezahlt gemacht hat. Unter Fachleuten ist Nordhorn dadurch zum Begriff und zu einem Wallfahrtsort geworden. Der Umweltberater des damaligen US-Vizepräsidenten Al Gore war schon vor Ort und zeigte sich begeistert. Auch das ist eine Zukunftsbranche.

In solchen Momenten, in denen nicht von der verflossenen Herrlichkeit die Rede ist, sondern von der Zukunft, zeigen die Nordhorner auch wieder Stolz auf ihre Geschichte. Immerhin war es ja auch ein Nordhorner, Bernhard Niehues, der die Erfolgsgeschichte von Nino durch einen ziemlich guten Einfall begründete. Er machte seine Stoffe zu einer Marke, als noch nicht so viel über Markenstrategie geredet wurde, indem er die Modefirmen dazu brachte, in ihre Hosen, Hemden, Mäntel das Nino-Zeichen einzunähen. Dafür bezahlte er aufwändige Werbekampagnen und beteiligte sich an den Kosten der Modekollektionen. Im Grunde war es genau das, was Intel heute bei Computerchips so erfolgreich macht, das Nino-Inside-Prinzip. Niehues war ein Chef, der in der Betriebszeitung auch gern mal klotzte. „Wir sind ein Weltunternehmen. Die größten Leute in Amerika haben mich und meine Herren empfangen.“ In Nordhorn nennt man das Jahrzehnt zwischen 1955 und 1965 noch heute „die Zeit des Feudalismus“.

Jedenfalls von oben gesehen. Von unten sah das anders aus. Johann Beernink hat mehr als 40 Jahre bei Nino gearbeitet. Seine Rente liegt bei 1000 Euro. Er hat einen kleinen Nebenjob als Gärtner und das Reihenhaus, in dem er wohnt, gehört ihm und seiner Frau. Auch das ist noch eine Wohltat aus der großen Zeit der Textiler. Hunderte von Werkswohnungen ließ Nino bauen, um seine Leute bei der Stange zu halten. Ein ganzer Stadtteil ist so entstanden. Auch Beernink hatte mit dem Gedanken gespielt, woanders zu arbeiten, blieb dann aber wegen der Familie in Nordhorn. Doch den Dialog mit dem Geschäftsführer der anderen Firma hat er bis heute nicht vergessen.

„Wo arbeiten Sie denn jetzt?“

„Bei Nino.“

„Wann wollen Sie anfangen?“

Durch sein Gesicht huscht der Stolz darauf, bei einer Weltfirma gearbeitet zu haben. Damals, in den 60ern und 70ern, als alle Welt den „Ninoflex“-Mantel kannte. Doch das ist lange her. Irgendwann ging es nur noch bergab. „So wie es heute bei Karstadt und Opel zugeht, ging es auch bei uns zu, und trotzdem dachte niemand, dass irgendwann wirklich Schluss sein wird.“ Als Beernink Rentner wurde, sagt er, „war ich heilfroh, aus diesem Rummelladen rauszukommen“. Er packte seine Sachen, gab den Werkzeugkoffer ab und betrat die Fabrik kein einziges Mal mehr. Ein paar Jahre später brach alles zusammen. Das Management versuchte zwar gegenzusteuern, übte sich zwischendurch in billiger Massenproduktion, wollte dann wieder Edelmarke sein. War mal klug, mal dumm. Doch irgendwann war klar, dass es nicht mehr ums Überleben ging, sondern nur noch um ein Hinauszögern des Endes.

Beernink hat nie viel verlangt vom Leben, wollte nur ein Auskommen für sich, seine Frau, seinen Sohn und seine behinderte Tochter. VW-Löhne hat er nie bekommen. Im Gegenteil. Als der Cabrio-Bauer Karmann in den 70er Jahren ein Werk in Nordhorn bauen wollte, setzten die Herren der Textilriesen alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern. Ein Metallbetrieb in der Nachbarschaft hätte die Niedriglohnregion durcheinander gewirbelt. 1989, sagt Beernink, als die Globalisierung so richtig an Fahrt aufnehmen konnte und als Begriff in den Zeitungen auftauchte, verdiente ein Weber im Akkord 15 Mark pro Stunde. Übertraf er die Vorgaben, konnte er auf 16,80 Mark kommen. Beerninks Spitzenlohn zu der Zeit, als er Maschineneinrichter wurde und eine Zulage für Schwerarbeit kassierte, war 18,50 Mark.

Globalisierung, das Wort kam in Nordhorn, wohin neue Worte ohnehin etwas langsamer dringen, erst auf, als alles schon vorbei war. Damals, sagt der Leiter des Stadtmuseums, Werner Straukamp, hieß das „Neue internationale Arbeitsteilung“ und wurde in der Hauptsache als Problem der Arbeitsbedingungen in den Billiglohnländern diskutiert. Angst vor Arbeitsplatzexport war selten. Doch auch in Nordhorn gab es Hinweise. Straukamp kramt ein Exemplar der Betriebszeitung „Nino-Bote“ aus dem Jahr 1959 hervor. „Der englischen Zeitschrift ,The Textile Weekly’ entnehmen wir folgenden Beitrag, der die Verhältnisse der Hongkonger Textilindustrie schildert und für uns nicht uninteressant sein dürfte“, heißt es da. Der Tageslohn von umgerechnet drei D-Mark wird genannt. Fett gedruckt im Text steht „84-Stunden-Woche“ und „Frauen in 12-Stunden-Schichten“. War das ein Fingerzeig? „Vermutlich ging es wohl eher darum, den Arbeitern zu sagen, seht her, wie gut es euch geht“, meint Straukamp. Bedroht von Hongkong fühlte sich damals niemand.

Einmal noch, kurz nach der Pleite des letzten Riesen, zerrte die Stadt einen dicken Fisch an Land. Die Citibank zog mit ihrem Callcenter in ein leer stehendes Verwaltungshochhaus. Doch nach sieben Jahren strukturierte der Bankkonzern um. Nordhorn ging leer aus. „Konzernfilialen sind tickende Zeitbomben“, sagt daher Wirtschaftsförderer Hilmes. „Irgendwer macht in irgendeiner Zentrale einen Strich und plötzlich hat man hier auf einen Schlag 500 Arbeitsplätze weniger.“ Die eigenen Weltkonzerne sind eingegangen, die Filiale des fremden ist weg. Nordhorn ist zurückgefallen in die Provinz. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute ist, dass die Menschen trotzdem in Nordhorn bleiben. Sie wandern nicht in Scharen ab, die Bevölkerungsstatistik weist sogar ein kleines Plus auf. Es ist nicht nur Lokalpatriotismus, der sie hier hält. Nicht nur Stolz. Der hat mit dem Niedergang von Nino & Co. einen kräftigen Schlag erlitten, das spürt man. Irgendwie muss es etwas damit zu tun haben, dass fast jeder hier im eigenen Haus wohnt oder gerade eins baut. Das Wort Heimat ist zu diffus, um zu beschreiben, was die Nordhorner trotz allem in ihrer Stadt hält. Vielleicht ist es einfach so, dass hier etwas leicht zu bekommen ist, was andernorts Mangelware ist, nämlich Platz. Was für ein Luxus.

Markus Brauck

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