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Kultur: György Konrád blickt dem Bürgermeister der Stadt Kandor in die Seele

"Antal Tombor mein Name, früher war ich Regisseur, heute bin ich Bürgermeister der Stadt Kandor." Mit großer Geste stellt er sich vor, der Ich-Erzähler in Konráds neuem Roman.

"Antal Tombor mein Name, früher war ich Regisseur, heute bin ich Bürgermeister der Stadt Kandor." Mit großer Geste stellt er sich vor, der Ich-Erzähler in Konráds neuem Roman. Die ganze Stadt ist sein Theater, er führt Regie, aber nicht für einen Film der Zukunft, sondern im Jetzt. "Geschichte ist das, was gerade geschieht." Er führt den Leser, den er zwischendurch auch einmal mit "Sie" anspricht ("allmählich lernen Sie Kandors Bürgermeister kennen") in alle Bereiche seiner Tätigkeit ein, die Amtsstuben und Sitzungssäle, die Kontakte mit den Bürgern, die Freunde und Feinde, seine Arbeits- und Lebensphilosophie. Das so entworfene Bild des vielgereisten Machers weist aber von Anfang an Brüche auf und Widersprüche. Ganz klar wird es im letzten Drittel des Romans: hier schreibt einer seine Lebensbilanz, im Angesicht des Todes. Sein Körper, von einer unheilbaren Krankheit gezeichnet, lässt ihn bereits im Stich, er nimmt Abschied von der Welt. So sitzt er im Garten seines schönen Hauses am Altern Berg, mit Blick auf den See, "von rechts schützt mich ein Nußbaum, von links ein Kirschbaum", und stellt auf der alten Robotron seinen Nachlass zusammen.

"Ich stoße die Türen zu den Schichten der Vergangenheit auf und mache die Erfahrung, dass es Neues und Altes nicht gibt. In meinem Bewusstsein ist alles, wie die Straßen in einer Stadt, im Raum nebeneinander ausgebreitet." In vielen kleinen Abschnitten, einmal von innen ("ich"), einmal von außen ("er"), in raschem Wechsel, oft in zyklischer Wiederholung, gelegentlich aphoristisch zugespitzt, werden Erinnertes und Gegenwärtiges, Gesehenes, Gefühltes und Gedachtes nebeneinandergestellt, um die zeitliche in die räumliche Dimension zu überführen. "Dieser heutige Tag, der jeweils heutige Tag, der keine zeitlichen Grenzen hat, ist der Roman. Ohne Anfang und ohne Ende, er dauert nur eben an." Dabei ist das Ausbreiten der Erfahrungen wesentlich, nicht das Klären und Ordnen. Zwar werden Lebensweisheiten und Aphorismen überall im Text verstreut, aber sie ergeben kein logisches Ganzes, immer ist alles möglich, auch das Gegenteil. "Die bunten Glasstückchen des Guckkastens ordnen sich nach jedem Schütteln zu interessanten neuen Gebilden." Gut und Böse sind nicht zu trennen. Alles ist, wie es ist. "Ich war, wie ich war."

So entsteht eine Atmosphäre der Gelassenheit, des Gewährenlassens, aber auch der Auflösung und Unerheblichkeit. Am besten, der Leser vertraut sich dem Fluss des Textes an, schwimmt mit, oft im Kreis, inmitten von Wiederholungen und Redundanzen, lässt sich treiben in der Fülle eines bewegten Lebens, während Tombor, eine Rosskastanie in der hohlen Hand, atmet, spürt, lebt und liebt und ein Glas ums andere trinkt im herbstlichen Weinberg.

Einige Lebensstationen lassen sich in diesem Strom fixieren. Das Geburtsjahr 1933 (das Tombor mit dem Autor teilt), die Deportation der jüdischen Eltern ins Konzentrationslager 1944, die Liebe zu seiner Frau Melinda (die andere Lieben nicht ausschließt), die Revolution 1956 und die Frage, warum er nicht emigriert ist (vielleicht aus Faulheit, die Lebensbedingungen im "gemäßigten Polizeistaat", die Wende 1989 und damit der Beginn seiner politischen Karriere, der mafiöse Nachbar Baba Dudu als Exponent des nun alles beherrschenden Geldes. Der "Nachlass" bietet somit auch eine Verdichtung von sechzig Jahren ungarischer Geschichte, dazu Züge eines nationalen Selbstportraits der Ungarn, wie etwa die Neigung, den Mantel in den Wind zu hängen und sich in der Opferrolle zu sehen. Tombor selbst ist, nach seinen eigenen Worten, kein Kämpfer, "eher ein Kopromisskoch".

Zeitgleich mit dem "Nachlass" gibt der Suhrkamp Verlag eine leicht revidierte Übersetzung von Konráds Debütroman "Der Besucher" (1969) heraus. So lässt sich vergleichend der Bogen spannen über dreißig Jahre. Vieles ist ähnlich, die kleinen Abschnitte, die zyklische Redundanz. Auch im "Besucher" legt der Erzähler Wert darauf, nicht zu urteilen, sondern die Welt (in diesem Fall der von der Gesellschaft Ausgestoßenen beschreibend zu erfassen. Während allerdings der Debütroman die Menschen und ihre Schicksale sehr konkret, mit expressiver Sprache darstellt, sozusagen in Ölfarbe malt, geht der Autor im "Nachlass" auf größere Distanz zu seinen Figuren, abstrahiert mit dem Bleistift fast bis zum Essay.

In György Konráds Schaffen verbindet sich der Schriftsteller mit dem Essayisten und auch dem Politiker. Als Konrád in diesem Frühjahr in seiner Funktion als Präsident der Berliner Akademie der Künste gegen den Nato-Einsatz im Kosovo Stellung bezog, distanzierte er sich als Mitteleuropäer von Westeuropa. Sein Mitteleuropa bezieht den Balkan mit ein. Der Gedanke findet sich auch im "Nachlass". Für einen Monat wird Tombors Stadt Kulturhauptstadt Europas. "Das kleine Europa kann sich nicht erweitern, wenn nicht eben in Richtung Kandor". Ungarn - und das ist nicht nur ironisch gemeint - ist der "Nabel Europas".György Konrád: Der Nachlass. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. 305 Seiten, 42 Mark.

György Konrád: Der Besucher. Roman. Aus dem Ungarischen von Mario Szenessy. 206 Seiten, 36 Mark. Beide im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999.

Eva Leipprand

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