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Die Hand, die den Stift für die Partitur geführt hat, entfaltet sich. György Kurtag 2009 in Budapest.

© Peter Kollany/ dpa

György Kurtág wird 90: Das todernste Spiel

Magische Gesten, flüchtige Konstellationen: Zum 90. Geburtstag des ungarischen Komponisten György Kurtág.

Von Gregor Dotzauer

Je länger das Altern der Neuen Musik andauert, desto grauer wachsen ihre Materialberge in den Himmel. Wie oft lassen sich die kleinen und großen Schutthaufen der atomistischen Ereignisse und Klangerzeugungsgesten nach rechts und links und übereinanderschieben, ohne dass die Kompositionen dabei den geringsten Schaden nehmen. Die Gefahr des Gefahrlosen, die Theodor W. Adorno nach den heute nicht mehr wahrnehmbaren Schocks von Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ und Alban Bergs Altenberg-Liedern schon Ende der zwanziger Jahre aufkommen sah, ist allgegenwärtig, und sie droht auch die Werke in den Gleichgültigkeitsabgrund zu reißen, die sich weit über ihn erheben: die pure Energie der zweiten Klaviersonate von Pierre Boulez, das Hochexpressive von Luigi Nonos „Canto sospeso“ oder Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester. Musik, die nicht in den seriellen Verfahren aufgeht, die ihr zugrunde liegen.

Wenn es aber einen lebenden Komponisten gibt, der diese Tradition beerbt, transzendiert und mit jedem einzelnen Ton aufs Ganze geht, dann ist es der Ungar György Kurtág. Stockhausens „Gruppen“ verstörten ihn Ende der 50er Jahre so nachhaltig, wie es nur noch seinem Freund György Ligeti mit den elektronischen „Artikulationen“ gelang. Zusammen mit ihm hatte er sich im September 1945 – Béla Bartók war gerade in New York gestorben – an der Budapester Liszt-Akademie eingeschrieben, wo sie bei Sándor Veress und Ferenc Farkas Komposition studierten. Doch erst 1959, mit einem Opus eins überschriebenen Streichquartett, ließ er nach schweren Krisen, aus denen ihn die Psychotherapeutin Marianne Stein befreite, sein spätromantisches Frühwerk hinter sich.

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er Kurse bei Darius Milhaud und Olivier Messiaen besucht hatte, war ein neuer Kurtág geboren. In zusehends kürzeren Formen verdichtete er Klangpartikel, die ganze Bibliotheken ungewöhnlicher Tongestaltung durchdeklinierten, lud sie aber mit einer Spannung auf, die selbst das äußerlich fragmentierteste Stück zusammenhält. In der kleinen Festschrift „… denn inniger ist, achtsamer auch …“, die die Berliner Hochschule für Musik im vergangenen Dezember anlässlich zweier Konzerttage für Kurtág herausgab, spricht er gegenüber der Geigerin Helena Winkelman von „Gesetzen des Organischen“. Denn was, fragt er, „kann nach einer Reihe von Skalen kommen? Ich habe darauf ganz verschiedene Antworten gefunden. Die Richtungen des musikalischen Verlaufs sind mir sehr wichtig, auch in alter Musik.“

Vor größeren Formen hat er bisher immer kapituliert

Diese Gesetze immer wieder neu zu finden, ist so kräftezehrend, dass er vor größeren Formen bisher immer kapitulierte. Ob er vor seinem Tod noch die seit Jahren angekündigte Oper nach Samuel Becketts „Endspiel“ abliefern wird, bezweifelt sogar er selbst. Denn alles Narrative verflüchtigt sich bei ihm in magische Momente, in Augenblickskonstellationen – nicht ganz anders als in seinem Leben. Mit Nono, erzählt er Winkelman, entstand eine beglückende Freundschaft, allerdings nur für die Dauer einer halben Stunde. Danach hätten sie einander nie mehr gefunden. Alles konzentriert sich in winzigen Gesten, die von der Hand, die den Stift für die Partitur hält, in die Hände übersetzen lässt, mit denen er seine Musik gelegentlich darstellt.

Kleine Geste, große Wirkung. György Kurtág 2009 in Budapest.
Kleine Geste, große Wirkung. György Kurtág 2009 in Budapest.

© Peter Kollany/dpa

So bringt es auch die „Petite Musique solennelle en hommage à Pierre Boulez 90“, mit der er letztes Jahr seinem Kollegen beim Lucerne Festival gratulierte und die am heutigen Freitag zu Ehren seines eigenen 90. Geburtstags von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne aufgeführt wird, auf gerade einmal sieben Minuten. Péter Eötvös nennt Kurtág einen „sehr scheuen Vulkan“. Entweder schweige er – oder er breche aus.

Kurtág, 1926 in Lugos, einer Kleinstadt im rumänischen Banat geboren und heute in St.-André-de-Cubzac bei Bordeaux zu Hause, ist Berlin seit Langem verbunden. 1971 war er Gast des Berliner Künstlerprogramms und kehrte 1993 auf Einladung des Wissenschaftskollegs als Composer-in-residence der Philharmoniker unter Claudio Abbado, für die er unter anderem die „Stele“ komponierte, an die Spree zurück. Vor zehn Jahren war er Gast einer zweitägigen Hommage in Neuhardenberg, die ihn an der Seite seiner Frau Marta mit den „Játékok“ (Spiele) überschriebenen Klavierduos präsentierten. Sie entfalten seine Klangvorstellungen zwischen Anton Weberns und Béla Bartóks Miniaturenmikrokosmos vielleicht genauer als alle anderen Zyklen,

Mikroskop und umgedrehtes Fernrohr

Sie stehen nur deshalb nicht im Zentrum seines überwiegend kammermusikalischen Werks, weil diesem die Idee eines Zentrums widerstrebt. Kurtág schaut auch auf die Musik dieses Zyklus wie mit einem umgedrehten Fernrohr und einem Mikroskop zugleich. Das macht seine Suggestionskraft aus, in der das Hingehauchte, Ersterbende, kaum Wahrnehmbare, fast schon aus dem Jenseits Herüberklingende mit der Gewalt des Eruptiven, Gehämmerten und Zerhackten ringt. Und niemand versteht es besser als er, die besondere, auf eine nicht mehr im Pianistischen beheimatet zielende Anschlagskultur zu zelebrieren.

Die Anregung zu den „Játékok“, erklärt er, habe „das Kind, dem das Instrument noch ein Spielzeug ist“ gegeben. „Es macht allerlei Versuche mit ihm, streichelt es, greift es an. Es häuft scheinbar unzusammenhängende Klänge auf, und wenn dies seinen musikalischen Instinkt zu erwecken vermochte, wird es nun bewusst versuchen, gewisse zufällig entstandene Harmonien zu suchen und zu wiederholen. Spiel ist Spiel. Es verlangt viel Freiheit und Initiative vom Spieler. Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden – das Geschriebene muss todernst genommen werden.“

Eine seiner bei ECM erschienenen Aufnahmen (weitere liegen bei Wergo vor) trägt den sprechenden Titel „Signs, Games and Messages“. Wie die Zeichen zu deuten sind, darüber informieren mustergültig Bálint András Vargas 2010 auch auf Deutsch erschienene Gespräche im Hofheimer Wolke Verlag. Ohne jeden musikwissenschaftlichen Jargon führen sie durch Werk und Leben und erzählen besonders anrührend von der Freundschaft mit György Ligeti. Der Band enthält überdies Zeichnungen von Kurtág, die man glatt für Partituren halten könnte.

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