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Kultur: Haben Sie gelesen oder Ihre Füße gewaschen? Alle großen Ideen scheitern an den Leuten:

Uwe Johnson interviewt Fluchthelfer

Kurz nach dem 13. August 1961 hatte die Berliner Mauer an den meisten Stellen der Stadt erst die Höhe einer Stacheldrahtrolle. „Wenn ich jetzt rüberspringe, würden Sie dann schießen?“, fragte eine kesse Ostberlinerin, an der Grenze entlangspazierend, einen bewaffneten Posten. „Nee“, sagte der – und sie sprang. Die Szene, erzählt von Detlef Girrmann im Gespräch mit Uwe Johnson, zeigt weniger einen Heldensprung als den beherzten Hopser einer Anglistik-Studentin, die ihren Magister an der Freien Universität Westberlins abschließen wollte, wo sie damals wie 500 andere „Grenzgänger“ aus dem Osten regulär studierte.

Damit auch weniger Beherzte ihr Studium und Leben im Westen fortsetzen konnten, initiierte Girrmann und eine Handvoll seiner FUKommilitonen das „Unternehmen Reisebüro“. Mit gefälschten Ausweisen, übertragenen Passierscheinen, Doppelgängerreisen und anderen Tricks verhalfen sie knapp tausend Menschen in den Monaten nach dem Mauerbau zur Flucht aus der DDR. Eine von ihnen war die Ehefrau des Schriftstellers Uwe Johnson, Elisabeth Schmidt, beide heirateten zwei Wochen nach der geglückten Flucht im Februar 1962.

Der Autor von „Mutmaßungen über Jakob“ und „Drittes Buch über Achim“ war zeitgleich mit seinem ersten Roman 1959 vom Osten in den Westen „umgezogen“. Vier Jahre später plante Johnson, eine „Geschichte der beiden Städte Berlins seit dem Mauerbau“ herauszubringen. Eine „epische Dokumentation“, für die er auch die Fluchthelfer um Girrmann interviewte. Eine Geschichte von unten, aus Anekdoten und oral history, die erzählt, wie die Weltpolitik in den täglichen Tag der Bewohner Berlins eingreift. Aus Johnsons Vorhaben wurde damals nichts, aber es haben sich zwei seiner „Gespräche mit Fluchthelfern“ erhalten, die nun als Buch vorliegen.

Die Listen, mit denen jene Leute um das Studentenwerk der FU im Spätsommer 1961 die Grenzer der DDR narrten, sind spannend zu lesen, aber Vergleichbares findet sich vielerorts dokumentiert. Das Besondere an diesem Buch ist der Fragende: Uwe Johnson. Zum Beispiel arbeitet er durch seine Fragen heraus, dass die Fluchthelfer um Girrmann und Dieter Thieme keine „Gruppe“ waren, zu der sie Staatssicherheit, Verfassungsschutz und mediale Öffentlichkeit machen wollten. Das heißt, keine Organisation mit Hierarchien und Weisungen, sondern ein „Freundeskreis“, der unabhängig und spontan agierte. Eine Seltenheit freien politischen Handelns, die Johnson auflas mit jenem Sinn für genaue Unterscheidungen, der auch sein Schreiben kennzeichnet.

Exakt will Johnson wissen, welche Routine von der Radionachricht des Mauerbaus bei seinen Gesprächspartnern unterbrochen wurde: „Haben Sie gerade gelesen oder Ihre Füße gewaschen?“ Unverständlich ist ihm, dass keiner zur Grenze fuhr, um mit eigenen Augen die Neuigkeiten zu prüfen. Unnachgiebig sucht er den Impuls der Fluchthelfer für ihr politisches Tun. Moralischer Idealismus war es nicht. Vielmehr das Handeln selbst. Und die „pure Freude“, den DDR-Regierenden „ein Schnippchen zu schlagen“, wie es einmal heißt.

Viele Details jener Fluchthelfer-Gespräche tauchen später in Johnsons Prosatexten „Eine Kneipe geht verloren“ und „Zwei Ansichten“ auf (beide 1965). Alles Wissenswerte zum „Unternehmen Reisebüro“ fasst er in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen „Begleitumstände“ (1980) zusammen. Solche Spuren in Johnsons Werk versäumt die Edition, trotz Wiederabdrucks der „Kneipe“, zu erhellen. Ebenfalls im Dunkeln bleibt die Andeutung, zu der man sich Archivdokumente gewünscht hätte, der Fluchthelfer-Freundeskreis sei von der Stasi unterwandert worden.

Was passierte mit den Menschen, deren Fluchtversuche verraten wurden? Eine umsichtige Redaktion der wortwörtlich transkribierten Gespräche hätte den Band lesbarer gemacht, zumal die Original-Interviews in Suhrkamps Mediathek (www.suhrkamp.de) zu hören sind.

Der Kabarettist Wolfgang Neuss hatte einmal die grandiose Idee, mit Uwe Johnson die „Flüchtlingsgespräche“ Bertolt Brechts für den Rundfunk aufzunehmen. Von diesem Tonband fehlt bisher jede Spur. Sollte es gefunden werden, wünschen wir uns eine Buch- und CD-Sonderausgabe! Aber wie der Flüchtling Ziffel dort heiter mutmaßt: „Alle großen Ideen scheitern an den Leuten.“

Uwe Johnson:

Ich wollte keine Frage ausgelassen haben. Gespräche mit Fluchthelfern. Suhrkamp

Verlag, Berlin 2010.

247 Seiten, 22,80 €.

Thomas Wild

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