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Kultur: Hai Noon in Berlin

Eitelkeiten, Pech und Pannen: Am Freitag soll der Admiralspalast mit der „Dreigroschenoper“ wiedereröffnet werden. Das Chaos war bei der Uraufführung 1928 am Schiffbauerdamm auch nicht kleiner. Geschichte eines Welterfolgs

Herbst 1927. Ernst Josef Aufricht, ein 29-jähriger erfolgloser Schauspieler und Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers, hat einen Traum. Wenn er als Schauspieler schon gescheitert ist, will er wenigstens als Theaterdirektor Karriere machen. Er beschließt, das leerstehende Theater am Schiffbauerdamm zu pachten – mit Vaters Geld. Aufricht senior spendiert 50 000 Mark für die Kaution, doch als der junge Mann eine Bank sucht, zeigt ihm der Bankier unmissverständlich, was er von dem Projekt hält: Er führt Aufricht in eine Toilette und sagt: „Wenn ich Ihnen das Geld gebe, und Sie werfen es hier hinein und spülen, ist es weg und Sie haben keinen Ärger gehabt. Wenn Sie mit dem Geld ein Theater eröffnen, ist das Geld auch verloren, aber Sie werden viel Ärger haben.“

Aufricht geht zu einer anderen Bank. Er kauft sich ein blaues Heft für seine Theaterbuchhaltung und schreibt hinein: „Blaues Heft: 5 Pfennig.“

Frühjahr 1928. Aufricht betraut Erich Engel mit der Regie und sucht mit Heinrich Fischer, seinem Stellvertreter, nach einem geeigneten Stück. Wedekinds „Frühlings Erwachen“? Nein. Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“? Auch nicht. Der Verlag Felix Bloch Erben schlägt ein Stück von Hermann Sudermann vor, dem Heimatdichter der Elterngeneration. Wütend wirft Aufrecht das Manuskript in den Müll, trifft sich mit Ernst Toller und Lion Feuchtwanger, niemand hat ein Stück. Jetzt bleiben nur noch die Künstlerlokale.

Ein Abend im April. Sie finden Brecht im Restaurant Schlichter. Er trägt eine Mütze, eine proletarische Joppe und isst Hummer. Brecht reagiert auf die Stückanfrage kühl, doch als die beiden zahlen wollen, beginnt er aufgeregt von der so genannten „Beggar’s Opera“ des englischen Dramatikers John Gay zu erzählen, die er als Nebenarbeit gerade überarbeite. Die im Bettlermilieu spielende Satire war bei ihrer Erstaufführung 1728 in London Stadtgespräch und brach bei ihrer Neuaufführung im Jahr 1920 mit fast 1500 Aufführungen alle Rekorde. Brechts Co-Autorin Elisabeth Hauptmann hat ihm von dem Erfolg erzählt, worauf er sie sofort mit der Übersetzung beauftragte.

Am nächsten Tag hält der junge Theaterdirektor sein Stück in den Händen, zumindest ein paar Szenen. Aufricht sieht das Stück als lustige Operette mit einigen sozialkritischen Einsprengseln. Brecht vergisst zu erwähnen, dass diese frühe Fassung hauptsächlich auf Hauptmanns Bearbeitung fußt. Er wird engagiert und holt gegen Aufrichts Bedenken den Komponisten Kurt Weill ins Boot. Die berühme Carola Neher soll Polly Peachum sein. Der Rest wird mit Kabarettschauspielern besetzt.

April 1928. Das Stück wird unter dem Namen „Gesindel“ angekündigt. Aufricht verlegt die Wiedereröffnung des Theaters auf den 31. August vor, seinen 30. Geburtstag, an dem er seinen Eltern stolz das eigene Theater präsentieren will. Brecht gerät wegen des Zeitdrucks in Panik und beschließt, mit Weill zum Arbeiten für einige Wochen an die Riviera zu fahren. Doch vorher gilt es, Geschäftliches zu regeln. Bei Felix Bloch Erben wird ein Vertrag über die Gewinnbeteiligung unterschrieben. Brecht setzt Weill die Pistole auf die Brust und besteht auf 62,5 Prozent. Weill erhält 25, Elisabeth Hauptmann magere 12,5 Prozent. Dieser Vertrag sorgt dafür, dass Brecht in Zukunft alle seine proletarischen Joppen maßschneidern lassen kann.

10. Mai. Fahrt an die Riviera. Brecht und Weill arbeiten Tag und Nacht. In kurzen Pausen gehen sie ans Meer. Brecht krempelt nur die Hosen hoch, behält die Mütze auf und die Zigarre im Mund. Mitte Juni kehren sie nach Berlin zurück, doch statt zu arbeiten, reist Brecht nach Heidelberg und zum Ammersee. Im Juli teilt Brecht Helene Weigel postalisch mit, dass der Text fertig sei. Tatsächlich war er nicht einmal mal bis zum Tag der Premiere fertig.

1. August. Probenbeginn. Weill trägt seine Lieder vor und überzeugt Engel und Aufricht, seiner Frau Lotte Lenja die Rolle der Spelunken-Jenny zu übertragen. Aufricht: „Dem kleinen Weill kommt so eine attraktive Frau gar nicht zu.“ Dann beginnt die Pechsträhne. Carola Nehers Mann, der Dichter Klabund, leidet an Tuberkulose und muss nach einem Anfall in ein Sanatorium nach Davos. Als sich seine Lage verschlimmert, bricht Neher die Proben ab und fährt ihm hinterher. Während Carola Neher am Sterbebett ihres Mannes sitzt, ruft Brecht täglich an und drängt sie, zurückzukommen. Einmal fragt er: „Lebt er denn immer noch?“

Nach Klabunds Tod ist Carola Neher am 18. August wieder in Berlin. Zweimal wird sie bei den Proben ohnmächtig, ein Arzt untersagt ihr die Aufführung, doch sie macht weiter, bis sie plötzlich behauptet, die Rolle sei ihr zu klein. Brecht lässt einen Tisch auf die Bühne stellen und schreibt ihr ad hoc ein paar Sätze, doch Neher lässt sich nicht besänftigen. Später bekennt sie, dass sie Brechts Songs, die er größtenteils von dem Französischen Dichter François Villon abgeschrieben hatte, nicht ertragen konnte – Villon war Klabunds Lieblingsdichter gewesen. Eine Woche vor der Premiere übernimmt Roma Bahn die Rolle der Polly. –

Die letzten Tage vor der Premiere. Auseinandersetzung zwischen dem Regisseur Engel und Brecht über die Songs. Brecht will, dass die Songs gesungen werden, als ob sie nicht zur Handlung gehörten. Engel will davon nichts wissen und schlägt vergeblich vor, die Musik ganz zu streichen. Harald Paulsen, Darsteller des Mackie Messer, beschließt, nur mit einem himmelblauen Tuch aufzutreten, das gut zu seiner Augenfarbe passt. Außerdem wünscht er sich einen Eröffnungssong, in dem nur von ihm die Rede sein soll. Engel schäumt vor Wut, Brecht lenkt ein und schreibt flugs die „Moritat von Mackie Messer“, zu der Weill über Nacht die Melodie komponiert. Am Ende wird nicht Paulsen, sondern Kurt Gerron das Lied singen. Peter Lorre, in der Rolle des Jonathan Peachum, macht das Chaos depressiv. Um aus dem Himmelfahrtskommando auszusteigen, isst er 24 Austern, was sein Magen wie erwartet nicht verträgt. Für ihn springt Erich Ponto ein, der, nachdem ein Großteil des siebten Bildes wegen Überlänge gestrichen werden muss, mit zwei Koffern in Aufrichts Büro steht und gleich wieder gehen will. Er kann beruhigt werden und bleibt, obwohl Erich Engel nach einem Streit um den Schlusschoral entnervt das Handtuch wirft. Jetzt übernimmt Brecht in letzter Minute die Regie, außer ihm glaubt aber niemand mehr an eine Premiere.

Zu den öffentlichen Proben kommen viele Neugierige beziehungsweise Schaulustige, unter anderem auch Feuchtwanger, Karl Kraus, George Grosz. Nur Brecht hat die Ruhe weg, geht nach den Proben noch ins Romanische Café und greift mit offenem Ohr den Titelvorschlag von Feuchtwanger auf: Jetzt heißt das Stück „Die Dreigroschenoper“.

31.August 1928. Als Aufricht in sein Büro kommt, erwartet ihn ein junger Schauspieler und sagt: „Sie haben mich für die tarifliche Mindestgage von zehn Mark pro Abend engagiert. Ich bin kein Schauspieler und will auch keiner werden. Ich verlange 30 Mark pro Abend oder ich verschwinde jetzt, und sie haben keine Premiere.“

Aufricht ruft Brecht, der den jungen Mann auf 20 Mark runterhandelt. Dann werden alle auf die Bühne gerufen, wo es ein Problem mit dem Pferd gibt. Auf dem Pferd soll der Bote der Königin auf zwei Schienen auf die Bühne rutschen. Leider ist der Winkel der Schienen falsch berechnet. Bote und Ross würden im Zuschauerraum landen. Die Apparatur zu ändern, ist vier Stunden vor der Premiere nicht mehr möglich. Brecht ruft: „Das Pferd kommt, oder es wird nicht gespielt!“ und lässt dem Pferd vier Räder anschlagen. Der Bühnenbildner Caspar Neher protestiert: „Wir machen kein Kindertheater.“ Brecht schreit: „Dieses Theater habe ich zum letzten Mal betreten.“ „Ich auch“, sagt Weill. „Können Sie mir das schriftlich geben“, fordert sie Aufrichts Stellvertreter Fischer auf. Alle erscheinen pünktlich zur Premiere. Der reitende Bote kommt übrigens zu Fuß.

19. 30 Uhr. Der Starkritiker Alfred Kerr öffnet das Programmheft und schlägt es beleidigt sofort wieder zu, als er zwei Gedichte seines Intimfeindes Karl Kraus entdeckt. Dann erstarren seine Züge, weil durch einen Irrtum der verhasste Kollege Ihering neben ihm Platz nimmt. Als der Vorhang aufgeht, ist das Publikum irritiert. Das Ehepaar Peachum zieht vorbei, verfolgt von Mackies Schatten. „Das war Mackie Messer“, ruft Polly, doch niemand applaudiert. Das Hochzeitsbild läuft an. Niemand lacht. Erst mit dem „Kanonensong“ bricht das Eis. Beifallsstürme, Trampeln. Das Lied muss wiederholt werden. Von da an wird jeder Satz beklatscht.

P.S. „Die Dreigroschenoper“ wird das erfolgreichste deutsche Stück des 20. Jahrhunderts. Allein zum Ende der Saison 1928/29 verzeichnete man 4000 Aufführungen in 200 Inszenierungen. Elias Canetti schreibt später: „Es war eine raffinierte Aufführung, kalt, berechnend. Es war des genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst, und sie gefielen sich. Erst kam ihr Fressen, dann kam ihre Moral“.

Literatur: Ernst Josef Aufricht: „Und der Haifisch, der hat Zähne . . .“. Aufzeichnungen eines Theaterdirektors. Alexander Verlag, Berlin. – „Die Entstehungsgeschichte der Dreigroschenoper“. Hörcollage von Peter Eckhart Reichel, duophon records, Berlin 2002.

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