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Halbzeit beim Berliner Theatertreffen: Ein großer Wurf, wohin?

Es wird viel geschrieen beim diesjährigen Theatertreffen. Als müssten die Schauspieler auf der Bühne zeigen: Wir leben noch! Eine formale Kunstübung, manchmal brillant, manchmal doof.

Es ist das Bühnenbild der Saison. Ein schummriger, schrundiger, labyrinthischer Verhau, Wohnwagen, Verschläge und Galerien aus Holz und Blech, halb fantastische Favela, halb apokalyptische Weltendszenerie, und davor das Tor mit dem schwarzen Schriftzug von Auschwitz. Doch statt „Arbeit macht frei“ stehen hier die Worte „Liberté, Égalité, Fraternité“. Dieser Hohn auf die bis heute noch über jedem Rathausportal zwischen Straßburg und Toulouse beschworenen Ideale der Französischen Revolution entspricht fatal genial der Provokation von Louis-Ferdinand Célines Jahrhundertroman „Reise ans Ende der Nacht“.

Ein Augenfang, erdacht von dem serbischen Bühnenkünstler Aleksandar Denic, der schon für Frank Castorfs letztjährigen Wagner-„Ring“ in Bayreuth ein phänomenales Panoptikum gezaubert hat. Und im Berliner Festspielhaus sollte Castorfs szenische Céline-Adaption vom Münchner Residenztheater, knapp viereinhalb Stunden lang, der mächtige Paukenschlag sein. Zur Halbzeit beim Theatertreffen 2014. Allerdings hatte nach der Pause etwa ein Drittel des Berliner Premierenpublikums, ähnlich wie in München, den Schauplatz verlassen.

Das ist bemerkenswert, weil es zum Teil auch Castorf-erprobte Zuschauer waren, Kenner, nicht volksbühnenfremd. Sie haben trotzdem einiges versäumt. Einen mit Szenenapplaus bedachten fabelhaft traurigkomischen Männer-können-Frauen-nicht-verstehen-Monolog der zwischen liebesleidender Tussi und Tragödin changierenden Schauspielerin Britta Hammelstein. Oder den Dialog zwischen Bibiana Beglau als Célines Alter Ego Ferdinand Bardamu und dem ziemlich überragenden Aurel Manthei als Bardamus Freund und Schattenmann Léon Robinson. Beide zimmern in Amerika einen Kaninchenstall und reden minutenlang durch die Zähne mit einem Bündel eiserner Nägel im Mund, und sie könnten sich durchaus dran verschlucken.

Faszinierende Nummernreigen

Es sind Virtuosennummern. Keine Mätzchen. Aber eben auch nur: Nummern. Und Castorf macht den 650-Seiten-Roman, der bei seinem ersten Erscheinen 1932 nicht nur die französische Literaturszene geschockt, erschüttert, elektrisiert hat, überhaupt zu einem großen, langen, manchmal kaum erträglich fahrigen, dann für Minuten und Viertelstunden immer wieder mal faszinierenden Nummernreigen. Seine halbnackten oder bizarr kostümierten Akteure kreischen sich die Kehle (seltener die Seele) aus dem Leib, toben, fetzen, kriechen, tanzen durch den ganzen tollen Laden – durch diese verrückten, tristen, hysterischen Tropen oder einen halluzinierten Westen. Denn Célines autobiographisch-imaginäre „Reise“ durch die menschliche Nacht führt und springt ja aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs ins afrikanische Kolonialelend, in die amerikanische Weltwirtschaftskrise und taumelt zurück und aus in Paris. Bei den Nutten, Kranken, Krüppeln. Den Verdammten dieser Erde.

Bei Céline sind das höllische Kollisionen, überwirkliche Konfrontationen. Bei Castorf, der neben Heinrich Schmidt- Henkels exzellenter Neuübertragung der „Voyage au bout de la nuit“ auch Heiner Müllers karibisch-französischen „Auftrag“ zitiert und seine Live-Kameras strapaziert, ist es eine collagenhafte Vermengung. Vermischung von allem und allen. Ein großer Wurf. Nicht weit daneben, aber weit darunter.

Formale Kunstübung, brillant oder doof

Das passt zu diesem Theatertreffen. Schon der Auftakt mit Dimiter Got- scheffs Heiner-Müller-„Zement“ (und etwas Kafka am Anfang) wirkte als starke, aber sonderbar ferngerückte theatrale Behauptung. War mehr Mythos und Mythologie. Und bei aller Unterschiedlichkeit eines „Amphitryon“-Verschnitts, eines „Onkel Wanja“ mit Volvo und der Robot-Lemuren in Fleißers „Fegefeuer aus Ingolstadt“: Jedes Mal ist’s eine formale Kunstübung, in Details brillant oder doof, egal. Aber allemal ins Abstrakte, ins Zeit- und Ortlose gehoben. Fast schon Installationen statt Inszenierungen.

Bibiana Beglau, die schon im Münchner „Zement“ die Protagonistin war, hat jetzt die „Reise“ nur noch mit heiser belegter Stimme durchgehalten. Und wenn die Schauspieler, wie zu oft in all diesen Aufführungen, schreien, dann meint man, sie müssten es, um zu zeigen: Wir leben noch! Es ist also viel Druck im Spiel und der immerselbe Dreh auf der Bühne: Das Theater kreist um sich selbst und weiß es kaum besser.

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