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Kultur: Haltet den Hype!

Geschichte boomt: Gedenktage sind immer ein Hit. Aber in Wirklichkeit ist unser Gedächtnis überfordert. Ein Plädoyer für die Langsamkeit

Prosit Neujahr! Kein Mensch möchte mehr irgendwas über den 11. September lesen. Das Thema hängt allen zum Hals ’raus. Komisch, man ist damals doch so scharf darauf gewesen. Man konnte gar nicht genug davon kriegen. Und jetzt hängt das Thema uns allen zum Hals ’raus. Warum ist das eigentlich so?

Kein Datum der Geschichte ist so schnell historisiert worden. Der erste Jahrestag hat als Medienereignis alle Jubiläen von Weltkriegsausbrüchen und Atombombenabwürfen in den Schatten gestellt. Aber, Hand aufs Herz, wie wichtig ist der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon wirklich gewesen? Jetzt mal ganz im Ernst: Was bedeutete er im Ablauf der Weltgeschichte? Das weiß man noch nicht. Um das zu beurteilen, ist der zeitliche Abstand von einem Jahr viel zu kurz. Wenn man mal ausnahmsweise ganz ehrlich ist.

Aber darum ging es auch nicht, am 11. September 2002. Es ging um etwas, das wir Medienleute gern „Hype“ nennen. Der Hype ist eine Art kollektiver Bedeutungsrausch. Wenn wir, die Medienleute, merken, dass die anderen Medienleute auf ein bestimmtes Ereignis oder auf ein bestimmtes Jubiläum abfahren, und das spüren wir einfach, das wissen wir, dafür haben wir Instinkte und sogar ein paar objektive Kriterien, dann stürmen wir los wie eine wild gewordene texanische Rinderherde.

Wer jetzt kein Sonderheft baut, der baut sich keines mehr. Es ist eine Frage des Konkurrenzkampfes. Mit der Realität und der wirklichen Bedeutung eines Ereignisses hat das Ganze wirklich nur bedingt etwas zu tun.

Es geht sozusagen um die gefühlte Bedeutung. Nicht um die wirkliche. Das wissen wir, die Medienleute. Aber machen Sie uns bitte keine Vorwürfe. Halten Sie uns bloß keine Moralpredigten. Die Zeiten sind hart, alle kämpfen um Ihre Aufmerksamkeit, keiner will Pleite gehen, und so weiter.

Geschichte boomt. Das wird oft gesagt. Historische Ausstellungen sind meistens sehr erfolgreich, jedes Jubiläum wird groß begangen, Guido Knopp produziert seine Serien wie das Kaninchen die Jungen. Und die neuen Museen sind voll, man muss nur an das Jüdische Museum in Berlin denken. Die Leute interessieren sich für Geschichte. Aber unser Gedächtnis ist trotzdem kaputt. Unser Gedächtnis ist wie ein Videorekorder, der verrückt spielt, ganz schnell vor- und zurückspult und nach dem Zufallsprinzip Schnipsel ausspuckt.

Ein anderes Bild ist vielleicht noch besser: Unser Gedächtnis ist wie ein Hafen, in dem ein Schiff nach dem anderen einläuft. Es hat immer nur ein Schiff Platz. Es liegt ein paar Tage im Hafen, dann fährt es wieder aus. Die Leute stehen am Kai und winken. Bald kommt das nächste Schiff. Erinnern wir uns noch an die Anschläge auf Bali? Schon beinahe vergessen, stimmt’s? Oder die Sache in Tunesien – was war da noch gleich?

Sogar die Revivals kommen immer früher. Die große alte Dame der deutschen Volksmusik heißt jetzt Nena. Auch die Verfallszeit der Debatten hat sich enorm erhöht. Walser, Goldhagen, Möllemann – bei diesen Debatten der letzten Jahre ging es zum Beispiel immer um das Gleiche, um die deutsche NS-Vergangenheit. Es gibt aber kaum Verbindungslinien zwischen diesen Debatten. Man tut fast immer so, als ob man zum ersten Mal diskutiert. Man fängt einfach immer wieder von vorne an, wie der alte Sisyphus mit dem Wälzen des Steins.

Unsere so genannte Erinnerungskultur hat in Wirklichkeit kein Gedächtnis. Denn wir tun fast immer so, als ob fast alles zum ersten Mal passiert. Der 11. September zum Beispiel – Versuche, die ganze Welt oder einen möglichst großen Teil davon aus Hass in die Luft zu sprengen, hat es seit mindestens hundertfünfzig Jahren immer wieder gegeben, Terrorismus gab es sogar schon im alten Rom. Im ersten Moment, unter Schock, vergisst man so etwas. Aber später, mit ein wenig Abstand, sollte man sich daran erinnern – um die Dinge einordnen zu können, um nichts Falsches zu tun. In Wirklichkeit passiert selten etwas völlig Neues, in Wirklichkeit wiederholen sich die meisten Ereignisse in verschiedenen Variationen.

Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht darin, zu vergleichen und einzuordnen. Wir sind nicht die ersten Menschen auf der Welt, sondern das Ende einer langen Kette. Kein Ereignis geschieht isoliert, es gibt immer Zusammenhänge und Vorgeschichten. Das klingt wunderbar klar und einfach. Aber unsere Erinnerungskultur funktioniert genau anders herum, nicht wie eine Wissenschaft, sondern wie der Journalismus.

Die Erinnerungskultur ist auf Gedenktage fixiert. Sie will die Dinge auf den Punkt bringen. Sie will die Ereignisse einzigartig und überraschend erscheinen lassen. Kein Mensch kauft schließlich eine Zeitung mit der Überschrift: „Das hat es schon oft gegeben, und jetzt ist es erwartungsgemäß wieder einmal passiert.“ Und die Erinnerungskultur ist auf Personen fixiert. Die großen Menschen der Geschichte, und die großen Schurken. So lassen sich am besten Geschichten erzählen.

Unser Gedächtnis hat sich inzwischen dem allgegenwärtigen Hype angepasst. Wir vergessen furchtbar schnell und erinnern uns bei Gelegenheit schnell ein wenig, und dann ist es auch schon wieder vorbei. Erinnern und Vergessen ist auf geheimnisvolle Weise das Gleiche geworden. Wenigstens das ist vielleicht wirklich neu an unserer Epoche: Was ein halbes Jahr her ist, kommt uns so vor, als sei es unendlich weit weg.

Vor ungefähr einem halben Jahr hieß einer der besten Stürmer der Welt Miroslav Klose. Vor einem halben Jahr stand es so gut wie fest, dass der nächste Bundeskanzler Edmund Stoiber heißt. Vor einem halben Jahr traf sich Gerhard Schröder mit deutschen Fernseh-Chefs, um das Programm total umzukrempeln. Gewalt sollte aus dem Programm weitgehend verschwinden. Das war kurz nach dem Amoklauf von Erfurt.

Schon vergessen? Nehmen Sie wirklich an, dass es nie wieder einen Amoklauf an einer deutschen Schule geben wird? Bloß, weil wir alle diese Sache in Erfurt schon fast wieder vergessen haben?

Es gibt einfach zu viel Bedeutung. Zu vieles ist angeblich wichtig und einzigartig und unvergesslich. Unser Gedächtnis ist überfordert. Die andere Seite der Medaille hat der amerikanische Kulturhistoriker Richard Sennett beschrieben. Das Ideal des modernen Kapitalismus, schreibt Sennett, ist der Mensch ohne Gedächtnis, ohne Bindungen, ohne Tradition, ein weißes Blatt, das an jedem Morgen je nach den aktuellen Bedürfnissen des Marktes neu beschrieben werden kann. Die Menschen schaffen es aber nicht, so zu sein. Sie würden sich gerne erinnern. Sie wüssten gerne, was wichtig ist und was unwichtig. In der Wirklichkeit eine Struktur zu entdecken, das wäre gut. Deswegen mögen wir Gedenktage und Feiertage. Aber letztlich sind sie immer eine Enttäuschung. Denn die Gedenktage machen sich im Kopf gegenseitig Konkurrenz wie rivalisierende Stars. Prosit Neujahr, in diesem Sinne.

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