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Kultur: Hamlet trifft Pythagoras

Bestsellerautor Daniel Kehlmann über Erfolg, deutsche Ideologie und die Schönheit der Forschung

Herr Kehlmann, was hat sich nach dem großen Erfolg der „Vermessung der Welt“ für Sie verändert?

Das Wichtigste ist ein gewisses Sicherheitsgefühl. Der Eindruck, dass man für eine ganz schöne Zeit seine Arbeit machen kann, ohne dass einen irgendjemand davon abhalten kann. Alles andere habe ich noch nicht soweit realisiert, dass sich mein Lebensgefühl dadurch geändert hätte. Ob da wirklich etwas anders geworden ist, ob der Erfolg ein zerstörerisches Element hat, werde ich dann feststellen, wenn ich wieder etwas zu schreiben versuche.

Ist schon etwas Konkretes geplant?

Ich weiß ziemlich genau, was ich als Nächstes schreibe, verrate aber noch nichts. Erstens aus Aberglauben und zweitens, weil es ja immer sein kann, dass nichts daraus wird. Und dann ist es besser, man hat nicht zu viel erzählt.

Haben Sie schon eine Allergie gegen das Signieren von Büchern entwickelt?

Komischerweise nicht. Bloß gegen das Beantworten einiger immer gleicher Fragen nach Lesungen. Die Leute können ja nichts dafür, es bringt einfach die Situation mit sich, wenn man oft auftritt.

Gibt es auch Fragen, die in den Kern des Romans treffen?

Natürlich. Aber der Vorgang der Literaturlesung – eine sehr deutsche Angelegenheit übrigens – produziert gewisse Ritualfragen. Die klassische Ritualfrage der siebziger Jahre war wohl: Glauben Sie, Sie können etwas verändern? Die der Achtziger: Warum schreiben Sie? Und heute ist es: Wo nehmen Sie Ihre Ideen her? Ich weiß nie so recht, was man darauf antworten soll. Und bei „Die Vermessung der Welt“ natürlich oft: Was stimmt nun eigentlich, und was stimmt nicht? Das ist eine legitime Frage, aber um sie sinnvoll zu beantworten, müsste ich einen zweistündigen Vortrag halten.

Wie erklären Sie sich den enormen Erfolg der „Vermessung der Welt“?

Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass viele Leute das Buch lesen, um zu wissen, wie es eigentlich gewesen ist bei Humboldt und Gauß. Ich kann dazu nur sagen, dass ich solchen Lesern abrate. Bei mir erfährt man nicht, wie es eigentlich gewesen ist, sondern höchstens, wie es gewesen sein könnte. Das Buch ist durch und durch ein Roman.

Und der ebenfalls enorme Kritikererfolg?

Das hat sehr geholfen. Kritiker klagen ja oft darüber, dass ihre Rezensionen so wirkungslos bleiben. Aber es hat doch eine beträchtliche Wirkung, wenn das ganze Feuilleton relativ zeitnah und einhellig ein Buch lobt. Ich bemerke noch etwas anderes: Eine ganze Berufsgruppe reagiert sehr stark auf den Roman, nämlich Menschen mit wissenschaftlichen Ausbildungen, die das Gefühl haben, dass hier ihre Welt beschrieben wird, die sie sonst nicht beschrieben finden. Natürlich war das nicht meine Absicht beim Schreiben. So zielgruppenorientiert könnte ich nicht denken.

Hat der Erfolg etwas mit der Deutschlandthematik zu tun – immerhin wird in Ihrem Roman ein Kapitel der Vorgeschichte deutscher Ideologie erzählt?

Ich glaube, das spielt eher eine Rolle bei den Auslandsverkäufen. Ich habe immer wieder sehr stark das Gefühl, dass gerade diese Thematik das Ausland interessiert – dass es auch ein Buch über die deutsche Klassik in ihrer Größe und Komik ist: Kant tritt gerade noch auf, aber schon als seniler Greis. Und kurz danach führt schon der Turnvater Jahn, als Perversion des deutschen Philosophen und erster deutscher Populist, das große Wort. Es ist also ein Roman, der eine Zeit betrachtet, in der plötzlich etwas Schlimmes begonnen hat, plötzlich etwas falsch gelaufen ist.

Ein Kritiker hat Ihnen kürzlich vorgeworfen, dass Sie sich mit Ihrem Roman über Deutschland lustig machen. . .

Es gibt natürlich eine deutschnationale Publizistik, die einen so komödiantischen Umgang mit Deutschland problematisch findet und sich mehr Pathos und mehr Ernst dafür wünscht, und es gibt sie gerade heute...

Wieso gibt es das wieder?

Offenbar gibt es wieder sehr stark diesen Wunsch zur Selbstvergewisserung, wie schön Deutschland doch sei und wie erhaben und großartig, und dass all das Schreckliche doch nur ein kleiner Teil unserer Geschichte sei. Das gibt es in der Bevölkerung, und das gibt es auch wieder bei Teilen der deutschen Publizistik. Bei kleinen Teilen, gottlob.

Ihre Wissenschaftlerfiguren erleben mitunter etwas, was man in der Religionswissenschaft unio mystica oder Erleuchtung nennt. Ihre Bücher behandeln die Problematik Naturwissenschaften versus Geisteswissenschaften.

Ich hatte immer eine Faszination für die poetische Seite der Naturwissenschaft. Eine Faszination für einen Bereich – besonders gilt das für die Mathematik – , in dem wirklich Gültigkeit herrscht und es tatsächlich Aussagen gibt, die bewiesen und wahr sind, und dies für die Ewigkeit. Ich kann die platonische Schönheit nachempfinden, die darin liegt. Es ist ja sehr leicht zu sagen, dass das alles Konstruktionen sind, die nichts mit der Welt zu tun haben. Aber jeder, der das behauptet, wird dennoch beim Einkaufen keine Drei-Millimeter-Schrauben nehmen, wenn die Dübel ein Zwei-Millimeter-Gewinde haben.

Sind Sie ein naturwissenschaftlicher Positivist?

Nein. Ich habe mit meinem Roman versucht, in der Frage der Bewertung der Naturwissenschaften keine eindeutige Entscheidung zu treffen. Das ist das Schöne an Romanen, sie müssen nicht eindeutig entscheiden. Sie sind am besten, wenn sie einander widersprechende Positionen gleichwertig verhandeln, einander gegenüberstellen – und durchspielen. Einerseits ist das wissenschaftliche Begreifen schön. Andererseits kommt in meinem Roman ja auch die Idee vor, dass die Welt sehr viel verloren hat durch das Projekt ihrer Vermessung. Am Schluss geht mein Gauß durch die von ihm vermessene Umgebung von Göttingen und denkt darüber nach, dass keine Landschaft, die einmal vermessen wurde, je wieder das wird, was sie einmal war.

Ein Herausfallen aus dem naiven Zustand?

Noch mehr als das. Was Gauß hier im Roman denkt, spielt schon sehr ins Metaphysische. Weil hier einmal ein Netz von Zahlen gespannt wurde, wird die Natur eine andere.

Handelt es sich um eine umgekehrte Erlösung?

Um eine Art von Sündenfall, der aber notwendig ist. Das letzte und äußerste Resultat dieses Sündenfalls haben wir in Gestalt unserer Atomkraftwerke. Wir haben überall Atomkraftwerke aufgebaut, die noch in 40 000 Jahren tödliche Strahlung produzieren werden, egal wie still und harmlos sie jetzt wirken. Und wir machen uns nicht klar, dass hier ein Eingriff in die Natur stattgefunden hat, der so tief ist, dass die Welt dadurch ontologisch eine andere geworden ist.

Ihre Wissenschaftler bewegen sich am Rande des Nervenzusammenbruchs. Unterliegen sie einem bösen Zauber?

Sie blicken zu tief. Sie sehen Dinge auf dem Grund der Welt, die besser unentdeckt bleiben sollten. Sie entdecken versteckte Brüche in der Wirklichkeit, deren Entdeckung die Wirklichkeit verändert. Sie finden Dinge, die man nicht finden soll.

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit sich Geistes- und Naturwissenschaft wieder ergänzen können?

Zunächst muss die Arroganz der Geisteswissenschaft aufhören. Wir leben in einer Kultur, in der man ganz zu Recht als Idiot gilt, wenn man zugibt, dass man Hamlet nicht kennt, in der aber ein Absolvent eines geisteswissenschaftlichen Studiums problemlos zugeben kann, dass er keine Ahnung hat, was der pythagoräische Lehrsatz ist.

Also ganz anders als zur Aufklärungszeit?

Natürlich. Das war eine Zeit, in der Leute wie Voltaire, Diderot und d’Alembert auch als Wissenschaftler tätig waren. Man kann heute von keinem Literaten verlangen, wissenschaftlich tätig zu sein, dafür ist die Spezialisierung zu weit fortgeschritten. Aber eine Annäherung kann nur dann geschehen, wenn die geisteswissenschaftliche Kultur es nicht mehr als schick ansieht, von der Naturwissenschaft keine Ahnung zu haben. Und umgekehrt sollte die Wissenschaft nicht das Bemühen der Laien um Verständnis von vorneherein als lächerlich abtun. Man kann und soll die Dinge erklären. Auch das ist das große Projekt der Aufklärung. Wenn die Philosophien von Kant und Hegel für Laien vermittelbar sind, dann sind es auch die Theorien von Einstein und Heisenberg.

Das Gespräch führte Marius Meller.

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