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Hannover: Von der Leine

Die Stadt ohne Eigenschaften: Warum Hannover Deutschlands geistiger Mittelpunkt ist.

Von Patricia Wolf

In Hannover an der Leine haben die Mädchen schöne Beine. Mag sein, dass die Beine der derzeit bekanntesten Hannoveranerinnen sprichwörtlich schön sind – doch eins haben diese drei Frauen mit Sicherheit gemeinsam: Lena, unser Star von Oslo, Ursula von der Leyen, Mutter der Nation und Beinahe-Kandidatin für das höchste Amt im Staate, sowie Margot Käßmann, die nach einer Alkoholfahrt zurückgetretene Bischöfin und für viele Bürger ideale Bundespräsidentin – sie alle sind von Gestalt eher klein. Ursula, namentlich die kleine Bärin, hat wie Käßmann fast die Figur eines Mädchens. Und Lena, die sich im Alltag am liebsten in Turnschuhen fortbewegt, trug High Heels beim Eurovision Song Contest in Oslo – so wurde sie die Größte.

Alles Gute kommt aus Hannover, denkt man in diesen Tagen. Jetzt also auch noch der definitive Kandidat für die Köhler-Nachfolge, Niedersachsens Landesvater Christian Wulff. Hannover, ausgerechnet, diese gesichts- und geschichtslose Stadt in der norddeutschen Tiefebene, Teil der „Metropolregion Hannover – Braunschweig – Göttingen –Wolfsburg“, Inbegriff des Provinziellen. Fast drängt sich der Verdacht auf, ein Kriterium bei der Kür zum Bundespräsidentenkandidaten sei Hannover gewesen. Von der Leyen und Wulff, der sich nicht gerade zimperlich gegen seine politische Ziehtochter durchgesetzt hat: Die Hannoveraner haben es unter sich ausgemacht.

Die Stadt an der Leine macht in letzter Zeit ständig Schlagzeilen. Ob im November 2009 zu Robert Enkes Trauerfeier mit 40 000 Menschen in der AWD-Arena, nach Margot Käßmanns Rücktritt im Februar, beim triumphalen Empfang Lenas vor wenigen Tagen oder nun als derzeitige Wirkstätte des wohl nächsten Bundespräsidenten. Und übrigens: Woher stammt Kanzlerin Merkels Vorgänger Gerhard Schröder? SPD-Chef Sigmar Gabriel war auch mal Regierungschef in Hannover. Die Niedersachsen, obenauf.

Was liegt in Hannover in der Luft, warum hat die Stunde der Stadt geschlagen? Ist es die widersprüchliche Mischung aus Lockerheit und Ehrgeiz, Machtstreben und Bescheidenheit, Zähigkeit und Humor, Durchsetzungsfähigkeit und bei aller Bodenständigkeit einem Schuss Wahnsinn, mit der die Lenas, Christians, Gerhards sich an die Spitze katapultierten? Oder ist es der schlichte Impuls zu beweisen, dass Hannover und Erfolg einander nicht ausschließen?

Hannover ist nominell eine Großstadt mit 520 000 Einwohnern – und doch ein Kaff, das gerne auch mal zu Hangover verballhornt wird. Wer die Stadt verlassen hat, um woanders sein Glück zu suchen, ist die höhnischen Blicke gewohnt, wenn die Rede auf den Heimatort kommt. Auch wer geblieben ist, verteidigt eher zögerlich sein Zuhause. Stolz auf ihre Herkunft wie die Düsseldorfer, Münchner, Bremer oder Kölner sind die Einheimischen hier kaum. Hannover, ist das nicht diese öde Ansammlung von Häusern, ohne jedes architektonische Highlight? Ein Ort, dessen größte Attraktionen die Messe und das Schützenfest sind, langweilig, bieder, ereignislos?

Hannover wird so wenig mit Coolness, Spektakel oder Avantgarde assoziiert, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie hier 1983 die ersten Chaostage stattfinden konnten. Anlass des Treffens von Punks und Gruppen aus der linken Szene war die geplante Einführung einer Punker-Datei, in der alle jungen Menschen mit auffälligem Aussehen geführt werden sollten. Wie der 1. Mai in Berlin-Kreuzberg, der 1987 erstmals mit Randale einherging, bekamen die Chaostage rituellen Anarcho-Charakter – mit Unterbrechungen gab es sie bis 2005. Hannover, die wilde Stadt?

Hannover – der Name stammt wohl von Honovere, Hohes Ufer – hatte seine Blüte zwischen 1436, als die Stadt Hauptsitz der Welfendynastie wurde, und 1866, als die Preußen die Herrschaft des Hannoveraner Königshauses beendeten. Seitdem ist die Stadt ohne Wahrzeichen – Ernst Augusts Reiterstandbild auf dem Bahnhofsvorplatz kann ja nicht im Ernst als solches gelten – die Hauptstadt des Durchschnitts und der Normalität. Langeweile ist Trumpf. Vielleicht erklärt eben das ihren aktuellen Erfolg.

In Hannover macht Deutschland sich ehrlich. Hier denkt die Nation über ihre Ängste, Depressionen und Tabus nach (Robert Enke), zieht die Konsequenzen aus ihren Schwächen (Käßmann), ist tüchtig, tapfer und rest-adelig (von der Leyen), gibt sich unwiderstehlich natürlich (Lena), gemeindet selbst den Punk ins Bürgertum ein (Chaostage) und schickt einen Mann ohne Eigenschaften ins Schloss Bellevue. Von Hannover lernen heißt die Krise meistern lernen – mit Nettigkeit. Immer schön die Mitte halten, lautet das Erfolgsrezept. Zwar wird hier keineswegs das reinste Deutsch gesprochen, aber der Rest der Republik glaubt nur zu gerne, an der Leine werde die Sprache der Dichter und Denker noch am wenigsten verfälscht.

Weil alljährlich im Frühjahr die Hannover Messe als weltweit größte und wegweisende Messe für neue Technologien ausgerichtet wird – und anschließend die Cebit als international wichtigster Marktplatz für neue Computertechnologie –, ist man zwar nicht gerade Weltstadt. Aber wer ständig Dienstleister aus aller Welt beherbergt, der beherrscht die Kunst, es allen recht zu machen, der diplomatisch austarierten, gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Kein Wunder, wenn so eine Stadt zwar keine Charismatiker hervorbringt, aber doch einige Leute, die in den Beliebtheitsskalen ganz oben liegen.

Und dann ist da noch das besagte Schützenfest, das weltgrößte seiner Art, das jedes Jahr im Juli anderthalb Millionen Besucher anlockt. Seine Traditionen reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück, zu seinem Brauchtum gehört die Lüttje Lage, eine Art Herrengedeck: ein obergäriges Lagen-Bier, dazu ein Korn, beides wird gleichzeitig heruntergekippt. Die kleine Lage, kurzer Prozess, Kompromiss der Geschmäcker – typisch Hannover.

Durchhalten, sich nicht unterkriegen lassen: Beharrlichkeit ist wertvoll in diesen Tagen, weit über die Stadt hinaus. Womit wir bei Hannover 96 wären. Nach einer äußerst schwierigen Saison haben die Fußballer zuletzt doch den Klassenerhalt geschafft, trotz der Krise nach dem Freitod ihres beliebten Torwarts Robert Enke. Und die Scorpions wurden deutsche Eishockeymeister, zum ersten Mal in ihrer Geschichte, sie überflügelten sogar den Favoriten, die Eisbären aus Berlin.

Überhaupt sieht Berlin alt aus im Vergleich zur niedersächsischen Landeshauptstadt. Wer trat am Abend von Lenas Triumph in Oslo in der O2-World auf? Die anderen Scorpions („Wind of Change“) auf Abschiedstournee, die Kanzlerband aus Hannover – Sänger Klaus Meine ist ein Duzfreund von Gerhard Schröder – mit ihrem testosterongetränkten Schweinerock, die schon zu Zeiten Musik machte, als Ernst Albrecht, der Vater Ursula von der Leyens, noch Ministerpräsident war. Für die ollen Kamellen aus Hannover ist Berlin gerade gut genug. Die Zeiten, in denen die Band so erfolgreich war, dass Bon Jovi bei deren Konzerten in Amerika und Japan als Vorband auftraten – sie sind passé.

Egal welches Thema, Hannover steht im Blickpunkt. Der Hannoveraner Staranwalt und Schröderkumpel Götz-Werner von Fromberg hat es vermocht, zwischen den seit Jahren bis aufs Blut verfeindeten Rockergruppen Hells Angels und Bandidos zu vermitteln; zumindest war es eine gelungene PR-Veranstaltung. Der Anwalt, vor dessen Haustür ein Bentley steht und dem ein nicht unbeträchtlicher Einfluss bei Hannover 96 nachgesagt wird, war sichtlich stolz, ein Friedensabkommen zwischen beiden Banden präsentieren zu können. Hannover macht zahm.

Selbst beim Schlossdebakel könnte die Nation von Hannover lernen. Während die Bundesregierung bei der Sparklausur an diesem Wochenende erwägt, ob der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses vertagt werden soll, ist die Rekonstruktion des Schlosses in Hannover unter Dach und Fach. In den Herrenhäuser Gärten, die zu Europas bedeutenden Barockanlagen zählen, soll die ehemalige Sommerresidenz der Welfen bis 2012 rekonstruiert werden. Bezahlt ist alles, ein Autokonzern übernimmt die Kosten. Davon kann die Bundeshauptstadt nur träumen.

Hannover ist das Maß aller Dinge. Das Mittelmaß.

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