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Harry Graf Kessler in einer Sänfte, Weltreisealbum China 1891/92.

© DLA-Marbach

Harry Graf Kessler: „Unbändige Neugier auf die Kulturen der Welt“

Für Christoph Stölzl, Kurator der Ausstellung "Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne", ist der Verleger und Mäzen eine Symbolfigur des „anderen“ Deutschlands. Viele seiner Ideale sind heute Wirklichkeit.

Herr Stölzl, Graf Kessler zählt heute nicht mehr zu den bekannten Figuren der Geschichte. Was macht ihn dennoch für uns Heutige interessant?

Das frühe 20. Jahrhundert und die Frage nach den Optionen, die es vor und nach dem Schicksalsjahr 1914 gab, lässt uns bis heute nicht los. Dabei geht es wesentlich um Deutschland und seine ambivalente Beziehung zur europäischen Moderne. Kessler, ein Genie der Begeisterungsfähigkeit und vermittelnden Sympathie, steht für den positiven „Möglichkeitssinn“ der deutschen Geschichte. Das „andere“ Deutschland, das sich 1918 entschlossen der Republik, der ästhetischen Moderne und der europäischen Verständigung verschrieb, statt weiter kulturreaktionär in nationalem Trotz zu vereinsamen, hat – besonders aus den Reihen der alten Eliten! – bis heute nur wenige faszinierende Symbolfiguren hervorgebracht. Kessler verdiente es, eine solche zu werden.

Kessler hat sich immer als Europäer verstanden und pendelte zwischen Berlin/ Weimar, Paris und London. Zugleich war seine Zeit eine der zunehmenden nationalistischen Abschottung. Hat sich Kesslers Idee eines vereinten Kultur-Europa mit der heutigen Verflechtung Europas erfüllt?
Kunst und Künstler Europas wandern endlich über alle Grenzen mit einer Selbstverständlichkeit, die Kesslers hartnäckig verfolgtes Ideal war. Und zumindest die deutsche Gesellschaft trägt das begeistert mit. In Opern- und Literaturhäusern, Theatern und Museen, im Feuilleton und im Kino geht es allein um Qualität, nie um nationale Herkunft. Ein Beispiel: Eben ist der größte europäische Kulturpreis „Kairos“ in Hamburg Theodor Currentzis, einem Avantgarde-Dirigenten aus Perm am Ural verliehen worden. Kesslers Matrix, eine unbändige Neugier auf die Kulturen der Welt, ist für viele Menschen zum Leitmotiv geworden Die weltoffene Kulturpolitik der Bundesrepublik ist vorbildlich. Man wünscht sich, dass sie sich in ganz Europa als Standard durchsetzt. Was die finanzielle Förderung grenzüberschreitender Kulturwanderungen betrifft, muss die EU freilich noch tüchtig zulegen.

Kessler suchte Weimar zu einem Zentralort europäischer Kultur der Moderne zu machen – und scheiterte vollständig. Später wurde Weimar ein Hort der politischen, der völkischen Rechten. Sie selbst leben in Weimar und leiten dort die Musikhochschule, die benannt ist nach Franz Liszt als einem der Protagonisten des „Silbernen Zeitalters“ Weimars: Ist Weimar heutzutage fähig und bereit, das Vermächtnis Kesslers anzutreten? Oder ist Kesslers Vorstellung einer solchen Hauptstadt des Geistes obsolet geworden?
Kesslers Traum vom „Neuen Weimar“ war ein Protest gegen die reaktionäre, nationalistische Kulturpolitik Kaiser Wilhelms II. Es war schon mutig, vom bildungsbürgerlich ehrwürdigen, aber politisch vollkommen preußenabhängigen Weimar aus den Kitsch-Kaiser herauszufordern. Immerhin: ohne Kessler kein van de Velde in Weimar, letztlich also auch kein Bauhaus. Wir leben Gott sei Dank in anderen Zeiten. Die föderale Bundesrepublik hat – trotz Berlins erfreulichem Wiederaufstieg – keine monopolisierende Kulturhauptstadt, sondern viele kulturelle Brennpunkte. Sie alle werfen mutig und ehrgeizig immer wieder ihren Hut in den Ring und beanspruchen europäische Wirkung – und oft gelingt es! Keiner von ihnen ist antimodern und national verengt. Dazu gehört auch Weimar, das mitspielt im großen Konzert. Kesslers Leitidee „Es gibt nur noch eine Weltkultur“ spiegelt sich schön in unseren Studenten, etwa denen der Bauhaus-Universität: Sie kommen aus mehr als 50 Ländern der Erde.

Kessler entstammt zwar nicht der Aristokratie, sondern dem Großbürgertum; er selbst aber pflegte eine „Aristokratie des Geistes“ oder „der Geistigen“. Stand sein eigener Lebensentwurf nicht der Moderne – nicht nur in kultureller, sondern auch sozialer Hinsicht – diametral entgegen?

Es ist wahr: Kessler – selbst ein elitäres Glückskind durch Herkunft, Vermögen und Ausbildung – glaubte lange an Eliten. Aber nach 1918 verschrieb er sich, anders als das Milieu, aus dem er kam, beherzt der sozialen Demokratie. Kesslers Votum, dass kulturell Privilegierte in besonderem Maße moralische, politische und ästhetische Verantwortung fühlen sollten, ist heute so richtig wie damals.

Was kann eine Ausstellung, die die disparaten künstlerischen Vorlieben und Interessen Kesslers zusammenführt, heute vermitteln – über das kulturhistorische Interesse an dem, was einmal war, hinaus?
Das Vorbild eines Menschen, der sich radikal der sinnlichen Wahrnehmung des Authentischen verschrieb – in unserer Zeit medialer Überwältigung und Verflachung ein faszinierendes, humanes Gegenbild. Wir holen aus „Kesslers Welt“ so viel Kunstwerke nach Berlin, wie es möglich ist. Vor allem aber lassen wir Kesslers Tagebuch-Stimme erklingen mit ihrer überwachen Wahrnehmung von künstlerischen und gesellschaftlichen Phänomenen und Personen. Wir blicken also mit Kesslers Augen auf die Welt und hören mit seinen Ohren zu. Ein Experiment – wir hoffen auf Kessler’sche Neigungen beim Publikum.

Christoph Stölzl ist seit 2010 Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und Kurator der aktuellen Ausstellung zu Harry Graf Kessler in Berlin. Tagesspiegel-Kulturredakteurin Nicola Kuhn hat sie besucht.

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