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Kultur: Harry, hilf!

Erst hatten alle nur an Science-Fiction gedacht. An "Independance Day" und "Mars Attacks", auch an good old King Kong und die fast schon vergessenen James-Bond-Gegner mit ihren globalgangsterhaften Privatarmeen, oder an die apokalyptischen Washington- und New-York-Romane von Tom Clancy und Dominique Lapierre.

Erst hatten alle nur an Science-Fiction gedacht. An "Independance Day" und "Mars Attacks", auch an good old King Kong und die fast schon vergessenen James-Bond-Gegner mit ihren globalgangsterhaften Privatarmeen, oder an die apokalyptischen Washington- und New-York-Romane von Tom Clancy und Dominique Lapierre. Das Einzige, was sogleich klar war nach dem Terrorschock im September: Nicht nur Kinder brauchen Märchen, auch wir Erwachsene suchen, um etwas Fremdes, Fantastisch-Erschreckendes oder noch Unbekanntes zu begreifen, nach assoziativen Bildern, nach Metaphern. Deshalb haben Menschen jenseits der Natur und der Fakten die Kunst erfunden. Die Imagination der Welt. Und in Kunstwerken, die den Tag überdauern, steckt wie in den großen Mythen ein Stück unseres kollektiven Unterbewusstseins - und eine Ahnung auch des Zukünftigen. Ein Traum (oder Albtraum) des noch Ungeträumten.

Das Messer als Metapher

Das ist der Grund, weswegen man bei Shakespeare, Büchner oder Flaubert plötzlich meint, ein Gesicht und eine Geschichte von heute zu entdecken. Solche Entdeckungen aber geschehen nicht bloß in den höchsten poetischen Höhen, zumal: wenn in dramatischen Situationen unsere Nerven und Sensorien besonders gereizt sind und die Kunst und das Leben voller Anspielungen, Bedeutungen, Indizien stecken. Als beispielsweise das Deutsche Theater Berlin in der Woche nach dem 11. September seine neue Intendanz mit Garcia Lorcas "Bluthochzeit" eröffnete, da gingen einem in diesem scheinbar fernen, archaisch-andalusischen Stück alle Sätze, die das Verhängnisvolle von Messern beschworen, ganz unerwartet nah. Oder wir lesen ein Gedicht, in dem von einem Ereignis im Juli 2003 die Rede ist. Darin heißt es, die "Weltregierung" habe zur endgültigen Befriedung der Menschheit deren Ausrottung beschlossen.

Und dann das: "Am 13. Juli flogen von Boston eintausend / mit Gas und Bazillen beladene Flugzeuge fort / und vollbrachten, rund um den Globus sausend, / den von der Weltregierung befohlenen Mord." Von Boston! Und ein "Funkspruch rund um die Erde" meldet: "Das neue Giftgas krieche in jedes Versteck. / Man habe nicht einmal nötig, sich selbst zu entleiben."

Dieses Gedicht ist gewiss kein großes Kunstwerk. Ein Fall von Gebrauchslyrik. Aber der Gebrauchswert ist seit einigen Wochen ein anderer; das Gedicht, das Erich Kästner vor über 60 Jahren geschrieben hat, wirkt gespenstisch, zumal wenn da steht, Menschen "hingen wie Puppen zum Fenster hinaus", und "Die Flugzeuge irrten, mit tausend toten Piloten, / unter dem Himmel und sanken brennend ins Feld". Kästner übrigens hat seine Moritat "Das letzte Kapitel" genannt.

Es gibt auch sublimere Fälle, sublimer und spektakulärer zugleich. Kein Witz: Ich meine "Harry Potter". Ohnehin sind Joanne K. Rowlings Bücher in ihrer Verbindung von abenteuerlicher Kindheitsgeschichte, Schülerlehrerfabel, Bildungsroman und Zauberspiel ein von Band zu Band immer größerer, genialerer Wurf. Mit jedem neuen "Potter" erkennen wir mehr, dass Rowling neben ihrem wunderbaren Humor und dem Sinn für Spannungseffekte auch so etwas wie einen epischen Groß-Plan verfolgt: Sie erzählt Harry Potters Erwachsenwerden auch als Welt-Gleichnis. Ohne pompösen Tiefsinn. Doch voll tieferem Sinn. Der Witz bleibt dabei zwar hellsichtig, doch die Welt wird dunkler im Kampf zwischen Gut und Böse, vor allem im jüngsten, im vierten Band "Harry und der Feuerkelch".

Eine Allianz gegen das Böse

Anfangs, im "Stein des Weisen", der als erste "Harry Potter"-Verfilmung heute Abend bei einer Galavorstellung in London auch auf der Leinwand Premiere hat und Ende des Monats in die deutschen Kinos kommt, anfangs schien das Reich des Bösen mitsamt seinem Führer Lord Voldemort, dem mörderischen Schwarzen Magier, bereits besiegt. Am Ende des vierten Bands jedoch gewinnt der Schwarze Lord neuerlich Gestalt und Macht. Er knüpft wieder sein Terrornetz, mit dem er die Welt der guten Magier ebenso wie den Rest der zauberarmen Menschheit überzieht. Und Voldemort hat auch seine "Schläfer", allen voran Lucius Malfoy, den Undercover-Mann im Zaubereiministerium - sie alle sind nun geweckt. Harry Potters mächtiger Schutzherr Dumbledore sieht nur noch eine Chance: Eine globale Allianz muss geschmiedet werden gegen die Terrorgruppen des Bösen.

Dieser Roman ist schon vor einem Jahr auf Englisch und dann in allen Weltsprachen erschienen, Millionen haben ihn als großes Geisterspiel gelesen. Jetzt aber wirkt der "Feuerkelch" wie eine Metapher der Gegenwart. Kinder und Narren, heißt es, sagen die Wahrheit. Auch Kinder und Zauberer, das zeigt Harry Potters Welt, deuten auf uns. Und die Wahrsagerin Joanne K. Rowling ist eine (wunderbare) Hexe. Im Mittelalter hätte man sie verbrannt - wie es einige amerikanische Sektierer unlängst mit ihren Büchern getan haben. Nun aber suchen FBI und CIA bei Hollywood-Autoren Anregung und Rat. Vielleicht sollten sie auch einmal die Heilige Joanne der Schlachtpläne fragen. Denn Harry, da sind wir ganz sicher, er wird diesen Kampf gegen das Böse im letzten, im allerletzten Kapitel doch gewinnen.

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