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Kultur: Hast du Töne?

Musik bildet ungemein. Aber um die Musikerziehung steht es schlecht hierzulande. Ein Armutsbericht

Kennen Sie Felix? Nein, nicht die gleichnamige Disco im Berliner Adlon-Palais ist gemeint, es geht um musikalische Jugendbildung – und die ist dort kein ganz so zentrales Anliegen. „Felix“ ist eine Auszeichnung, ein Orden gewissermaßen, der im Eingangsbereich von mittlerweile sechs Berliner Kitas prangt. Dort haben ehrenamtliche Tester des Deutschen Chorverbands – seit 2000 in Sachen „Felix“ unterwegs – ein „erhebliches Bemühen um die Musikalisierung von Vorschulkindern“ festgestellt. Die erste Plakette ging an die Apostel-Paulus-Kita in Schöneberg. Die Kinder singen viel, auch die Orff-Instrumente kommen regelmäßig zum Einsatz.

Seit langem bemüht sich der Deutsche Musikrat darum, Musikerziehung als festen Bestandteil der Erzieherausbildung bundesweit festschreiben zu lassen. Bislang leider vergeblich. Zwar wird in Berlin sicher in vielen Kindergärten regelmäßig gesungen, und auch spezielle Einrichtungen wie die Waldorfkindergärten integrieren das Liedersingen in den Alltag. Dennoch ist es oft Glückssache, ob die Kinder per Kassettenrecorder fragwürdige „Hits“ vorgeplärrt bekommen oder ob man ihre Musikalität sensibel und fachkundig zu wecken versucht.

Um den Stellenwert der musikalischen Bildung wird hierzulande heftig gerungen – vor allem, seitdem die Sparzwänge der öffentlichen Haushalte zu entsprechenden Schwunderscheinungen geführt haben. Gebetsmühlenartig verweisen die Musikverbände auf die Gefahren dieser Entwicklung. Untersuchungen in Schulklassen, auch neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung zeigen, dass Musik sich auf die geistigen und sozialen Fähigkeiten von Kindern günstig auswirkt. Koordinationsvermögen, Schulung des Gehörs, visuelle Auffassungsgabe, Rhythmusgefühl, das Aufeinandereingehen: Musik machen ist Fitnesstraining für Körper und Geist.

Mit solchen Argumenten versuchen die Verbände auf Politiker einzuwirken, die oft selbst keine Beziehung zur Musik haben und sie nicht mehr als Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses begreifen. Also muss man sie auf prosaische Weise von deren Nutzen überzeugen: Musik fördert die Intelligenz – im Windschatten von Pisa ein starkes Argument.

Ganz erfolglos ist diese Taktik nicht: Weil sich die Lebenswelten von Jugendlichen immer mehr virtualisieren, wächst bei Eltern und Politikern das Bewusstsein für die Bedeutung von sinnlich erfahrbarer, individuell und gemeinschaftlich erlebbarer musischer Bildung. Leider hat der Bewusstseinswandel kaum Konsequenzen. Besonders deutlich wird das an den allgemein bildenden Schulen, dort also, wo breite Kreise mit Musik konfrontiert werden (sollten). Zahlen, die belegen, wie viel Musikunterricht hierzulande tatsächlich gegeben wird, halten die Ministerien sorgsam unter Verschluss. Um die 50 Prozent Ausfall vermutet der Deutsche Musikrat, jede zweite Musikstunde findet nicht statt. Die Gymnasien sind noch am besten dran, Haupt- und Realschulen schneiden schlechter ab. Und gerade in den Grundschulen wird der Musikunterricht oft von nicht qualifizierten Lehrern gegeben, so genannten Neigungslehrern.

Ein Lichtblick dürfte das Projekt „Musikalische Grundschule“ darstellen, das die Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem hessischen Kultusministerium angeschoben hat. An 21 ausgewählten hessischen Grundschulen wird nicht nur überdurchschnittlich mehr Musikunterricht erteilt, man probt gleich die Musikalisierung des gesamten Schulalltags. Und das geht so: In vielen Fächern werden Lieder lernunterstützend eingesetzt, etwa indem Zahlenspiele mit Rhythmen kombiniert regelrecht ersungen werden. Mit Erfolg: Auch in Deutsch oder Mathematik sind die Schüler am Ende besser.

Wollen erfolgreich frühmusikalisierte Kinder ein Instrument lernen, kommen sie in die Musikschule. Zu Recht rühmt sich Deutschland eines dichten Netzes solcher Einrichtungen; etwa eine Million Schüler lernt an fast 1000 Schulen. Leider ist der Verband Deutscher Musikschulen von seinem Traumziel, dass Länder, Kommunen und Eltern sich die Kosten dritteln, weiter entfernt denn je. Die Länder geben sich knauserig, und seit sich die Finanzsituation der Kommunen (als eigentlichem Träger) rapide verschlechtert hat, steht die Musikschule als Institution unter verheerendem ökonomischen Druck.

Die Folgen: ein deutlich reduziertes Angebot, Gruppenunterricht, Schließungen, von der Bezahlung der Lehrer zu schweigen. Früher in der Gehaltsgruppe eines Sachbearbeiters im mittleren Dienst angesiedelt, sind sie als Honorarkräfte heute (fast) jeder Willkür ausgesetzt. Massenentlassungen wie zuletzt an der Musikschule Reinickendorf sind an der Tagesordnung. War es in den Achtzigern für Profi-Musiker noch vergleichsweise attraktiv, an einer Musikschule zu unterrichten, ist es das heute nicht mehr.

Wo aber bleiben all jene Profis, die weder eine strahlende Solistenkarriere vor sich haben, noch eine Orchesterstelle? Und: Wer sind sie? Betritt man die traditionsreichen Hallen der Berliner Universität der Künste, nimmt man meist mit allerlei Instrumenten bepackte junge Musiker wahr, Musiker vieler Nationalitäten. Die deutschen Musikhochschulen besitzen genau die Anziehungskraft, die andere Universitäten sich händeringend wünschen: Sie ziehen in hohem Maß ausländische Studenten an. Das ist insofern erfreulich, als sich hier ein hohes, angesehenes Ausbildungsniveau manifestiert. Außerdem ist es natürlich im Interesse der Bundesrepublik, deutsche Musikkultur zu exportieren: als Imageträger.

Mittlerweile beläuft sich der Ausländeranteil bei den Studierenden auf 35 Prozent. Bedenkt man, dass in der Ausbildung zum Schulmusiker naturgemäß deutsche Studenten überwiegen, wird die Brisanz dieser Zahl deutlich. Nicht selten findet sich etwa in Klavierklassen kein Deutscher mehr, und sollte sich doch einer dorthin verlaufen, ist er gut beraten, Russisch oder auch Koreanisch zu lernen.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Hoch motivierte, bienenfleißige und bestens ausgebildete Ausländer schneiden bei den Aufnahmeprüfungen besser ab als ihre deutschen Konkurrenten. Auch wird es immer schwerer, Deutsche für den Musikerberuf zu motivieren. Die Misere der schulischen Musikvermittlung wird im Profibereich offenkundig: Der Dirigent Kurt Masur glaubt sogar, dass wir „unsere“ Musikkultur in 20 Jahren aus Asien importieren. Angesichts dieser Probleme ist die Ignoranz der Politik zum Verzweifeln. Leuchttürmelnde Vorzeigeobjekte wie die Berliner Philharmoniker oder die Bayreuther Festspiele werden weiter gefeiert, während die Basis der musikalischen Bildung erodiert. Hier schließt sich ein Teufelskreis. Zwar unterhalten etliche deutsche Orchester und Opernhäuser Pädagogik- und Jugendprojekte, auch werden freie Fördermittel Musikern und Ensembles zunehmend weniger für die Sicherung ihrer künstlerischen Qualität zugesprochen, sondern für pädagogische Zusatzprojekte. Aber dieses Engagement kann eine langjährige musikalische Ausbildung nur ergänzen, nicht ersetzen. Bröckelnde Bildungssysteme werden so kaschiert, die Musiker dürfen deren Abbau auch noch mit befördern.

Das Resultat zeigte sich unlängst beim „Rhythm is it“-Projekt der Berliner Philharmoniker: Zwei der jugendlichen Teilnehmer wollten Unterricht an einer Berliner Musikschule nehmen. Ein Jahr, so die Antwort, müssten sie sich in Anbetracht der Wartelisten und des reduzierten Unterrichtsangebots schon gedulden.

Ulrich Pollmann

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