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Heidrun Friese, Ethnologin: ''Lampedusa ist ein Testgelände''

Die Ethnologin Heidrun Friese analysiert die soziale und kulturelle Situation der italienischen Flüchtlingsinsel Lampedusa.

Auf der italienischen Insel Lampedusa, die zwischen Tunesien und Sizilien liegt, sind unlängst 800 Menschen aus einem Flüchtlingslager ausgebrochen. Seit Jahren kommen Flüchtlinge auf die Insel - was verschärft jetzt die Lage? 

Friese: Die Leute sind wütend, ratlos. Sie sind überfordert, die gestrandeten Flüchtlinge wie die Einheimischen. Aktueller Grund dafür ist die Entscheidung von Italiens Innenminister, aus dem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge ein Abschiebelager für illegale Migranten zu machen. Wer kein Asyl erhält soll im Sammellager Lampedusa bleiben und von dort direkt abgeschoben werden. Vorher schickte man die Flüchtlinge ans Festland, sie erhielten ein Dokument mit der Aufforderung, das Land binnen einer Woche zu verlassen. Die neue Regelung passt den Flüchtlingen nicht - sie wollen ja rein nach Europa. Außerdem sind sie eingepfercht in ein Lager, das für 850 Menschen gebaut wurde, aber mit 1800 belegt ist. Die Pläne des Ministeriums bedrohen die Einheimischen - sie sehen damit ihre Insel - die bis zum Ende des Faschismus auch eine Strafkolonie beherbergte - als Abschiebedepot missbraucht. Aber die Wut der Einheimischen sitzt tiefer, sie hat sich lange aufgestaut.

Wie ist dieser Zorn entstanden?

Friese: Seit Jahren nehmen die Leute auf der Insel unfreiwillig teil an einem massiv verstörenden, sozialen Experiment. Als ich Mitte der Achtziger  Jahre zum ersten Mal zu einer Feldforschung dort war, lebte man von  Fischfang und Tourismus. Inzwischen ist das Mittelmeer dramatisch überfischt, die Erträge sinken, und was noch zu holen ist, fangen die besser ausgerüsteten Schiffe vom Kontinent oder japanische Fischereiflotten. Mehr und mehr tunesische Fischer dringen in die lokalen Fischgründe vor, ohne dass die zuständigen Stellen eingreifen. Damals, als ich anfing, bei den Familien auf der Insel für ein Projekt der historischen Anthropologie Narrative zu sammeln, gab es noch keine Bootsflüchtinge. Auch Ausländer gab es nicht, nur einen Marokkaner, der auf dem winzigen Flughafen arbeitete.
 
Dann kamen die Flüchtlinge, und aus war die Idylle? 

 
Friese: Ganz und gar nicht. Zuerst sah das Szenario gut aus, herzlich  sogar. Mitte der Neunziger nahmen die Lampedusani zum ersten Mal Flüchtlinge aus Nordafrika und der Subsahara auf - Lampedusa ist ja  immer nur Transitort für illegale Migranten. Die ersten Flüchtlinge nahm man mit offenen Armen auf. Ohnehin verlangt das Ethos der Seeleute seit Generationen, dass Schiffbrüchigen oder Leuten in Seenot geholfen wird. Es war egal woher sie kamen, wie sie aussehen. Danach hat keiner gefragt. Damals nahmen sogar örtliche Carabinieri Flüchtlinge in ihre Häuser auf, Frauen kochten ihnen  Suppe, man brachte ihnen Decken. Sie waren Gäste auf der Insel, und die Insulaner stolz auf ihre Gastfreundschaft. Die Tochter meiner Gastfamilie zum Beispiel, ein Mädchen, das ich kennen lernte, als es zwölf war, machte mit achtzehn einen Rotkreuzkurs für Erste Hilfe und gründete eine Gruppe junger Leute, die sich um die Ankömmlinge kümmerten. Man kannte ihre Namen, ihre Geschichten. Es gab Freundschaften, Mitmenschlichkeit.
 
Dann endete der gute Wille.

 
Friese: So war es. Mit der Zeit sahen sich die sechstausend Insulaner logistisch überfordert - inzwischen werden bis zu 20 000 bis  30 000 Flüchtlinge im Jahr vor der Insel aufgegriffen, Leute aus dem Maghreb, Äthiopien, Eritrea, Sudan und anderen Ländern. Fast täglich mehrere Schiffe voller Erschöpfter, die meisten ohne Papiere - das war für Gemeinde nicht mehr zu bewältigen.
 
Darum griff die Regierung ein?
 
Friese: Sie nahm der Bevölkerung gewissermaßen deren Gäste aus der  Hand - und einen großen Teil ihrer Insel. Als der "Flüchtlingsbetrieb" institutionalisiert wurde  - was ja notwendig war - ließ man die  Einheimischen außen vor. Das war falsch. Es entstand ein geschlossenes Lager, verwaltet von Leuten von außen, weder Einheimische noch Journalisten  hatten Zutritt. Natürlich ist es kein Guantanamo, wie Italiens Linke manchmal behauptet, aber ein isolierter Ort. Vom Festland, etwa aus der verarmten und korrupten sizilianischen Provinz Agrigento, zu dessen Verwaltung Lampedusa  gehört, entsandte man Helfer. Carabinieri, Militär, Polizisten tauchten  auf, Küstenwache, Hilfskräfte aller Art. Für die waren die Clandestini unsichtbar geworden.
 
Haben nicht auch Einheimischen im Lager Arbeit gefunden?
 
Friese: Nein, man hielt das bis vor kurzem komplett getrennt. Die jungen Lampedusani mit ihrer Rotkreuzkursen bekamen im Lager keinen Job, nicht einmal der örtliche Pfarrer dürfte die Gestrandeten besuchen. All meine Interviews mit solchen Clandestini, die mir vom Lager berichtet  haben, musste ich woanders machen, etwa im Großraum Palermo, wo viele in der Illegalität untertauchen und, etwa als Tomatenpflücker, in die Landwirtschaft gehen. Das Paradoxon ist: Politisch will man sie nicht in  Europa, wirtschaftlich aber sind diese rechtlosen Billiglöhner zugleich ein wichtiger Faktor für uns.
 
Wie gelangen die Clandestini nach Lampedusa?
 
Friese: Sie steuern die Insel auf Booten an, die von tunesischen und libyschen Häfen  auslaufen. Ihnen fehlt oft der geringste Begriff von Seefahrt, für ihre  Überfahrt zahlen sie ungeheuerliche Summen. Dehydriert, frierend, erschöpft, oft halbtot werden sie aufgegriffen, viele sterben auf der Überfahrt. Für sie gibt es auf Lampedusa einen eigenen Friedhof  - und einen Friedhof für die Schiffswracks gab es bis vor kurzen auch. Im  Dezember wurde er abgefackelt - ich vermute von Rivalen um den  lukrativen Auftrag, die Schiffe zu verschrotten. Mit  Außenbordmotoren, die von den Wracks abmontiert werden, treibt  man übrigens auch lebhaften Handel.   
 
Viele verdienen am Flüchtlingsgeschäft.
 
Friese: Die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten ist zu einem einträglichen Business geworden. Die Kooperative, die das Lager betreibt, bekommt 33 Euro pro Tag für jeden Insassen, Helfer und Carabinieri werden dauerhaft in lokalen Hotels und Pensionen einquartiert, es verdienen die Bars, die Restaurants. Doch drastisch verändert sich der Alltag, Europa interessiert sie nicht. Wenn mir jemand sagt: Die Clandestini, die bekommen  hier Hemd und Hose, Geld fürs Telefon, Zigaretten, während wir kein Krankenhaus haben, in dem unsere Kinder zur Welt kommen können, dann kann ich dem nicht mit abstrakten Argumenten zu Europa begegnen. Der Unzufriedene ähnelt vielen, vielen Europäern, die mit der Problematik der Migration konfrontiert sind, ohne mit Migranten direkt in Berührung zu kommen, ohne zu wissen, wie sozial bekömmliches Community Organizing  aussehen könnte, eine bessere Lösung.
 
Was sind die Lehren aus Lampedusa?
 
Friese: Dieser kleine Fels im Mittelmeer, an dem seit den Neunziger Jahren immer mehr Flüchtlinge landen, ist so etwas wie ein Brennglas der Gegenwart. Hier lassen sich exemplarisch so gut wie alle Probleme der  Globalisierung  ablesen, alle Ambivalenzen, Strebungen, Ängste und Fehlplanungen. Lampedusa ist so etwas wie ein Testgelände für unsere  Selbstdefinition als Europäer, für unser Verständnis von Europa.

Heidrun Friese ist Privatdozentin für Ethnologie mit den Schwerpunkten Mittelmeerstudien, Europäische Integration und Transnationalismus. Seit  mehr als zwanzig Jahren untersucht sie den sozialen Wandel der Insel Lampedusa, wo sie unter anderem ein Jahr lang als Feldforscherin lebte. An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder untersucht Friese gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Beispiel von Lampedusa "Die Grenzen der Gastfreundschaft" im Umgang mit Migranten. Sie konzipiert derzeit eine Ausstellung zur "Festung Europa".

Das Interview führte Caroline Fetscher

Heidrun Friese ist Privatdozentin für Ethnologie mit den Schwerpunkten Mittelmeerstudien, Europäische Integration und Transnationalismus. Seit mehr als zwanzig Jahren erforscht sie den sozialen Wandel der Insel Lampedusa, wo sie ein Jahr lang lebte. An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder untersucht Friese gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Beispiel von Lampedusa "Die Grenzen der Gastfreundschaft".

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