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Land der aufgehenden Sonne. Morgenstimmung am Fuji. Foto: Imago

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Kultur: Heilende Harmonien

Mit Klassik zurück zur Normalität: die Japan-Tournee des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin

„Nippon“, das ist das „Land der aufgehenden Sonne“, und nirgends wird die Wahrheit dieses Namens sinnfälliger, als wenn nach durchflogener Nacht die japanischen Inseln am Horizont auftauchen, getaucht in einen Ozean aus Licht. Wenn der rotglühende Sonnenball die Konturen des Fuji aus dem Dunst schält. Japan, das ist das ganz Andere, das Fremde, das Roland Barthes nur beschreiben und begreifen konnte, indem er es als „Reich der Zeichen“ analysierte. Und doch ist dieses Land westlichen Musikern in den letzten Jahrzehnten merkwürdig vertraut geworden. In Japan ging für sie die Sonne auf – auch wirtschaftlich. Gastspielreisen europäischer Orchester und Opernhäuser erhöhten nicht nur das Renommee, sie spülten auch gutes Geld in die Kassen, denn die Honorare waren (und sind) besser als in London oder New York.

Die Japaner kennen und lieben abendländische Klassik schon viel länger als die Chinesen oder Koreaner. Der Geiger Shin'ichi Suzuki hat in den 20er Jahren in Berlin studiert, Wilhelm Kempff kehrte nach seiner ersten Japanreise 1936 immer wieder zurück, Manfred Gurlitt emigrierte 1939, Karajan war ab 1957 mit den Berliner Philharmonikern regelmäßig zu Gast. In Japan aufzutreten war selbstverständlich für jedes Spitzenorchester. Doch dann kam Fukushima, und plötzlich galt das alles nichts mehr. Stars wie Jonas Kaufmann oder Anna Netrebko sagten ihre Auftritte aus Angst vor Strahlung mit teils fadenscheinigen Begründungen ab, Orchester wie die Dresdener Philharmoniker verschoben ihre Tournee auf nächstes Jahr, das Ensemble der Bayrischen Staatsoper rebellierte.

Das ist inzwischen aber schon wieder Geschichte. Die Münchner waren da, die Berliner Philharmoniker werden ab 22. November auf ihrer Asientournee in Tokio Station machen. Keiner aber bleibt so lange im Land wie das Deutsche Symphonie-Orchester: Drei Wochen, elf Städte, 13 Konzerte, vom 22. Oktober bis 6. November. Ein echter Liebesbeweis. Es ist die 13. Reise des DSO nach Japan, 2009 war es mit Ingo Metzmacher dort, dieses Mal mit Yutaka Sado, einem japanischen Dirigenten, den die Musiker seit über zehn Jahren kennen und schätzen. Und auch das Publikum spürt: Diese Kombination ist etwas Besonderes. Alle Konzerte sind ausverkauft. Gespielt werden unter anderem Strauss’ „Don Juan“ und Tschaikowskys 5. Symphonie. Orchesterdirektor Alexander Steinbeis hat das Programm ausgehandelt, die Japaner wollten ursprünglich Beethovens „Fünfte“ sowie dessen 5. Klavierkonzert – konventioneller geht es kaum.

Heinz-Dieter Sense ist gekommen, momentaner ROC-Geschäftsführer und damit auch Chef des DSO. Und auch der Bundespräsident ist in Japan, um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor 150 Jahren zu feiern. Zum Empfang in der Deutschen Botschaft sind auch DSO-Bläser eingeladen. Ebenfalls mit dabei: Evgeni Bozhanov. Leider kann der bulgarische Pianist mit Mozarts Klavierkonzert A-Dur Nr. 23 überraschend wenig anfangen. Sportiv und atemlos huscht er durch die Partitur, wird dabei ständig schneller und verfehlt Mozart doch komplett. Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini, das alternative Stück, liegt ihm wesentlich besser. Und Sado? Der wird immer selbstsicherer, beim dritten Konzert in Fuji reißt er das Publikum in einer feurigen Tschaikowsky-Interpretation mit.

Kurz darauf ist der Saal schon wieder komplett verwaist. Japan ist eine hochgradig organisierte Gesellschaft. Zehn Minuten, bevor ein Konzert anfängt, sind die Reihen noch schütter besetzt, pünktlich zu Beginn sind sie voll. Und ebenso schnell wieder leer, eine fast unheimliche Effizienz. Kaffee verschüttet? Nach zwei Minuten hat ihn eine freundliche Dame weggewischt, weiß der Teufel, wo sie plötzlich den Wischmopp her hat. Mundschutz auf der Straße? Keine Sorge, es gibt keine Epidemie, da hat nur jemand Schnupfen. Die Maske ist nicht dazu da, sich vor anderen zu schützen, sondern andere vor sich. Das Kollektiv ist alles. Angeblich musste in Fukushima kein Arbeiter ins havarierte Atomkraftwerk gezwungen werden. Sie gingen freiwillig. Westlicher Individualismus (und Egoismus) sind weit weg. Rätselhaft, warum die Japaner trotzdem Beethoven so lieben, Komponist des Individuums schlechthin. Ist es die Sehnsucht nach der Kehrseite des eigenen Selbst?

Dann Tokio, die Monsterstadt. Die DSO-Busse flitzen über Stadtautobahnen, an denen Wohnungen wie Bienenwaben kleben. Der Schnellzug Shinkansen donnert im Fünf-Minuten-Takt durch die Stadt. Ein Moloch der Moderne – aber ein gezähmtes Monster. Die Lichter der Metropole sind gedimmt, alles ist weniger poppig und grell. Die Katastrophe hat das Land zum Innehalten gezwungen, der Hunger auf Elektrizität macht Pause. Angestellte arbeiten im Licht von Funzeln, wo früher die Deckenlampen Tag und Nacht brannten und die Klimaanlage vor allem dazu da war, die Hitze der Lampen zu kühlen. Jetzt sind von 54 Atomkraftwerken nur zehn in Betrieb. Trotzdem wird darüber nicht wirklich diskutiert. Wo soll die Energie auch sonst herkommen? Die Japaner kennen keine german angst. Oder sie zeigen sie nicht.

Das Orchester schon. Beim DSO wollten zunächst viele nicht mitfahren. Erst Orchesterarzt Christian Engelbert hat die Stimmung gedreht: Bei 0,05 Mikrosievert pro Stunde würde die Strahlung liegen und damit noch unterhalb der Werte einiger Orte in Deutschland. Daraufhin sind nur wenige Musiker mit unbezahltem Urlaub daheimgeblieben. Die, die mitkamen, wirken locker, auch dann, als der Shinkansen auf dem Weg nach Sendai für einige Minuten in der Stadt Fukushima hält. Es ist eine reine Streicherauswahl, die sich auf den Weg zum vielleicht wichtigsten Konzert dieser Tournee gemacht hat: Einem kostenlosen Solidaritätskonzert für die Einwohner von Natori, einer Stadt, die vom Tsunami hart getroffen wurde. Um zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind, dass das Leben weitergeht, dass Normalität zurückkehren kann. Im letzten intakten Saal spielen sie Mendelssohns 10. Streichersymphonie und Tschaikowskys Streicherserenade. Bürgermeister Isoo Sasaki gibt sich dankbar: „Ihr Auftritt ist Teil eines Heilungsprozesses“, sagt er.

Dann geht’s zurück nach Tokio, die Tournee geht weiter. Fast täglich ein Konzert in einer anderen Stadt, das zehrt. Aber Konzertmeister Bernhard Hartog bringt den Sinn der Reise auf den Punkt: „Es ist wichtig, dass kulturelle Normalität nach Japan zurückkehrt“, sagt er. „Damit sich die Menschen lösen können von dem, was auf ihnen lastet.“

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