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Kultur: Heilige Wissenschaft

Berlin baut: Die Neutronenleiterhalle des Hahn-Meitner-Instituts in Wannsee

Zahlreiche Industriedenkmale im Berliner Stadtbild erinnern noch heute daran, dass die Stadt einst zu den bedeutenden europäischen Industriemetropolen zählte. Doch der Industriestandort Berlin ist Geschichte – der Forschungsstandort hingegen quicklebendig. Und er wird weiter ausgebaut: Unlängst wurde auf dem Gelände des Hahn-Meitner-Instituts (HMI) in Wannsee die Neutronenleiterhalle II fertig gestellt. Ebenso wie der Forschungscampus der Humdoldt-Uni in Adlershof bietet sie ein Beispiel für neue Technik- und Wissenschaftsarchitektur made in Berlin. Entworfen hat die Halle das Berliner Architekturbüro DGI Bauwerk. Es ist eine High-Tech-Architektur der besonderen Art, werden im Halleninneren doch künftig gut abgeschirmt Neutronenstrahlen des HMI-Forschungsreaktors eingesetzt. Angebunden an die alte Neutronenleiterhalle ist mit dem Neubau auf rund 1000 Quadratmetern Platz für fünf wissenschaftliche Experimente entstanden, bei denen mit Neutronen beschossene Stoffe untersucht werden.

Doch die Architektur von DGI Bauwerk bietet den Wissenschaftern des HMI nicht nur eine funktionale Hülle für ihre Versuche. Zugleich verleiht sie dem Wissenschaftsstandort im Südwesten Berlins zusätzliche bauliche Qualität. Dafür sorgt bereits die Fassade der fast 14 Meter hohen und 50 Meter langen Halle. Sie besteht aus Aluminiumplatten, die die Betonkonstruktion in einem zarten Blau-Grau umhüllen, das im Sonnenlicht changiert. Und so inwendig und abgeschlossen die Experimente mit den Neutronen allein schon unter Sicherheitsaspekten durchgeführt werden müssen, so haben die Architekten doch Wert darauf gelegt, dass dessen ungeachtet ein Blick von außen in die Halle möglich ist.

An einer der Hallenecken haben sie ein großes Fenster in die Fassade eingefügt, das die Künstlerin Friederike Tebbe mit einem abstrakten Farbmuster versehen hat. Teils durchsichtig, teils durchscheinend, nehmen die rechteckigen Farbfelder mit ihren unterschiedlichen Blautönen die Farbigkeit der Fassade auf, setzen aber mit kräftigem Orange auch einen Kontrapunkt. Durch Tebbes Glasfenster bekommt die Halle auch im Inneren eine ganz eigene, beinahe sakral anmutende Atmosphäre. Wie ein Altar findet in einer Vertiefung zu Füßen des großen Fensters ein neuer Magnet für eines der Experimente seinen Platz. Im Inneren dieses 25 Tesla starken Magneten werden künftig Proben platziert, um deren Materialverhalten beim Neutronenbeschuss unter dem Eindruck extremer Außenbedingungen wie eben starkem Magnetismus zu beobachten. Er soll in den nächsten Jahren durch einen Magneten mit noch größerer Feldstärke von 40 bis 45 Tesla ersetzt werden.

Natürlich fordert eine solche Wissenschaftsarchitektur besondere Voraussetzungen bei der Realisierung. Um Verfälschungen von Messergebnissen vorzubeugen, verlaufen die Kabeltrassen im Boden des rund fünf Millionen Euro teuren Bauwerks unter Edelstahlabdeckungen, die kaum magnetisierbar sind. Und für ein weiteres Experiment, bei dem ein ausgeklügeltes System von Magnetfeldern aufgebaut wird, wurde in der Hallenmitte ein besonders ebener Granitboden verlegt. Auf ihm werden sich die Neutronen-Messdetektoren künftig auf einem Luftpolster bewegen, damit es nicht zu verfälschten Messergebnissen kommt.

Derweil ragen an den Seitenwänden der Halle Rohre und Versorgungsleitungen wie filigrane Strebepfeiler empor, überfangen von den Stahlträgern der 16 Tonnen tragenden Kranbahn und den Oberlichtern. Das von dort einfallende Tageslicht wird durch Folie gedämpft.

Statt Ruß und Dampf wie einst im 19. Jahrhundert ist in dieser High-Tech-Forschungsstätte eine fast antiseptische Störungsfreiheit gefordert. Doch jene Aura, die bereits vor hundert Jahren von technischer Architektur ausging, bleibt auch in der Neutronenleiterhalle spürbar, effektvoll gesteigert durch die Verknüpfung von funktionaler Architektur mit Friederike Tebbes kunstvoller Fenstergestaltung.

Jürgen Tietz

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