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Kultur: Heim ins holde Reich

Das Literaturhaus Berlin zeigt Gegenwelten zur offiziellen DDR-Literatur

„Liebe Sylvia! Ich bin von der Stasi abgeholt!“, hat Ralf-Günter Krolkiewicz in Eile auf einen Zettel geschrieben. „Ich weiß nicht, wie lange es dauert! Sei bitte da!“ Dauern sollte es eineinhalb Jahre. Und warum? Krolkiewicz hatte zu Beginn der achtziger Jahre an der Kunsthochschule Dresden und in einem Potsdamer Jugendklub ein paar satirische Texte vorgelesen.

Der Zettel hängt im Berliner Literaturhaus in der Ausstellung „Literarische Gegenwelten“. Er ist Bestandteil des „Archivs unterdrückter Literatur in der DDR“, das die Schriftsteller Ines Geipel und Joachim Walther seit fünf Jahren zusammengetragen haben – 40 000 Manuskriptseiten von etwa 100 Autoren, die aus politischen Gründen nie gedruckt wurden. Was Krolkiewicz damals schrieb, kann man mittlerweile in einem Band der „Verschwiegenen Bibliothek“ lesen, die Geipel und Walther in der Edition Büchergilde herausgegeben haben. Vier von 20 geplanten Büchern sind bereits erschienen. Muss die Geschichte der DDR-Literatur nun neu geschrieben werden?

Muss sie nicht, lautete die fast einhellige Reaktion, als die ersten Exemplare der „Bibliothek“ im letzten Jahr erschienen. Edeltraud Eckerts Gedichte „Jahr ohne Frühling“ seien zu epigonal, Radjo Monks „Blende 89“ ein schlichtes Wendetagebuch, alles ohne ästhetischen Belang. Was relevant war, sei ohnehin im Westen publiziert worden. Wohl wahr. Doch wie sollten die Gedichte Eckerts nicht epigonal sein? Gedichte einer 20-jährigen Frau, die 1950 wegen ein paar läppischer Flugblätter zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Die in ihren zensierten 20-Zeilen-Briefen aus den Gefängnissen Hoheneck und Stollberg/Sachsen beschreibt, wie sie der Außenwelt und sich selbst immer fremder wird. Die in markerschütternder Ungerechtigkeit zu leben und zu schreiben versucht, ehe ihr ein Arbeitsunfall die Kopfhaut abreißt. Die 1955 stirbt und in einem Massengrab verscharrt wird, ohne dass ihr Eltern auch nur einen Totenschein erhalten.

Ein Wunder, dass Monk, dem die Staatssicherheit wegen eines angeblichen Fluchtversuchs Anfang der achtziger Jahre bereits die Instrumente gezeigt hatte, mit der Schere im Kopf schreibt? Seine Aufzeichnungen bezeugen anschaulich das Lebensgefühl einer ostdeutschen Generation, die weiß: „Die einzige Strategie, die wir beherrschen, ist die des perfekten Rückzugs in die private Nische.“

Geht man durch die Ausstellung, in der Geipel und Walther eine Archivsituation simulieren, erlebt man einige Überraschungen. Wände ragen in den Raum, deren Schautafeln jeweils einer Dekade gewidmet sind. Auf ihnen gibt es Kurzbiografien der vergessenen Autoren zu sehen, die Parolen des Tages aus dem „Neuen Deutschland“, Fotos, Manifeste. In Aktenordnern liegen Stasi-Dokumente, an Hörstationen laufen Rundfunk-Features.

Das Spektrum der vorgestellten Schriftsteller ist breit, vielleicht zu breit. Es reicht von Autoren wie Inge und Heiner Müller oder Wolfgang Hilbig, die mit staatlicher Literaturverhinderung zu kämpfen hatten, aber schwerlich als Neuentdeckungen gelten können. Interessanter sind die vielen Unbekannten. Etwa Susanne Kerckhoff, die Halbschwester von Wolfgang Harich, Schriftstellerin, Essayistin und Feuilleton-Chefin der „Berliner Zeitung“. 1950 begeht sie angeblich Selbstmord und taucht in keiner Literaturgeschichte auf. Oder Jutta Petzold, der Ingeborg Bachmann und Sebastian Haffner 1961 zur Flucht verhelfen wollen. Die Flucht scheitert, Petzold wird observiert und verbringt fast 10 Jahre in der Nervenklinik. Kaum einer kennt heute ihre Gedichte. Bemerkenswert und zugleich abstrus ist der 1981 von Rolf Schilling gegründete Dichterbund „Holdes Reich“. Tief in der teutonischen Mythenwelt, also sternenweit entfernt von jeder DDR-Realität, wurde in dieser elitären Veranstaltung an einer „Traum- und Gegenwelt zum herrschenden Verfall“ gebastelt. Man korrespondierte mit Ernst Jünger und Fritz Usinger, betrieb Nietzsche- und George-Kult.

Gerade Unternehmen wie das „Holde Reich“ zeigen, dass die klandestine Literaturproduktion in der DDR noch lange nicht hinreichend bekannt ist. Einige Korrekturen am herkömmlichen Bild sind schon jetzt vorzunehmen. So konnte man in den ach so liberalen achtziger Jahren, als die einen ausgewandert waren oder ausgewiesen, die anderen – unter subtiler Federführung der Überwachungsorgane – ihre Sprachfantasien recht frei ins Kraut schießen ließen, für ein Romanmanuskript noch immer zu einer martialischen Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt werden.

Die Ausstellung, sagt Geipel, ist nur eine „Arbeitsstation“. Natürlich wird weiter gesammelt, die „Verschwiegene Bibliothek“ wird fortgesetzt. Noch in diesem Jahr soll Thomas Körners „Das Grab des Novalis“ erscheinen. Ein „traumatisierter Essay“, gefiltert aus 5000 Manuskriptseiten, dem Walther großartige Spracharbeit attestiert. Das letzte Wort in Sachen DDR-Literatur ist offenbar doch noch nicht gesprochen.

Literaturhaus Berlin, Fasanenstr. 23, bis 15. März. Kein Katalog.

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