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Kultur: Heimat in der Plastiktasche: das globale Stetl

Wer seinen Hausstand in Tüten um den Globus schleppt, dem bleibt nicht viel anderes als zu träumen. Die Bilder der Migrantenströme in den Fernsehnachrichten gleichen sich.

Wer seinen Hausstand in Tüten um den Globus schleppt, dem bleibt nicht viel anderes als zu träumen. Die Bilder der Migrantenströme in den Fernsehnachrichten gleichen sich. In gewaltigen, extra verstärkten Plastiktaschen tragen Menschen ihre Habe in eine ungewisse Zukunft. Sie fliehen vor Unterdrückung und Verfolgung oder aus wirtschaftlicher Not. Je kleiner das Gepäck, desto größer die Sehnsucht. Aber eines werden die Emigranten in der neuen Heimat nicht los: die Erinnerung an die Dörfer, aus denen sie kamen.

1964 wurde am New Yorker Broadway das Musical „Fiddler on the Roof“ uraufgeführt. Seinen bis heute anhaltenden Erfolg hat das Stück auch der Tatsache zu verdanken, dass in ihm die Sehnsüchte der Migranten und ihrer Nachkommen einen mythischen Ort bekommen haben: das Stetl „Anatevka“. Die Architektur des Stetls, des typischen Dorfs der osteuropäischen Juden, kündet ebenso von der Gemeinschaft der Bewohner wie von ihrer schlichten Lebensweise. Galt das Stetl mit seiner drangvollen Enge vielen Juden aus den europäischen Großstädten vor dem Zweiten Weltkrieg als Symbol für die Rückständigkeit der „Ostjuden“, diente es später vor allem Auswanderern nach Amerika als Bild für die angeblich heile Welt vor dem Holocaust.

Die Installation „matchmaker matchmaker“ im Jüdischen Museum (Foto: posttheater) verhehlt die Ambivalenz des Mythos in keiner Weise. Der Theatermacher Max Schumacher und der Bühnenbildner Matthias Böttger haben ein Stetl aus jenen Plastiktüten gebaut, die politisch unkorrekt „Polentaschen“ genannt werden. Spitzgiebelige Häuser aus dem karierten Kunststoff stehen nun im Gegenwarts-Segment der Dauerausstellung. Betritt der Besucher das Dorf im Miniaturformat, entdeckt er in den Häuschen Bildschirme mit Aufnahmen von Hollywoodkulissen, alten Stetl-Dokumentarfilmen und immer wieder auch – sich selbst. Verfolgt von kleinen Kameras, die in die Wände eingelassen sind, wird der Besucher Teil des Dorfes. „Die Leute sollen die soziale Kontrolle spüren, durch die die Geborgenheit im Dorf erkauft wird“, sagt Böttger. „matchmaker matchmaker“ ist ein Projekt des „posttheaters“, es gab bereits performanceartige Aufführungen an verschiedenen Orten. In dem Song „Matchmaker“, der der Installation ihren Namen gab, beklagt der arme Milchmann Tevje die Entscheidung seiner Töchter, die Männer ihrer Wahl zu heiraten. „Wo glauben sie, dass sie sind? In Paris? Oder in New York?“, fragt er. Wie jemand zu handeln hat, bestimmt in diesem Denken der Ort, an dem er lebt. Im Museum wirft ein Projektor die Verse an die Wand, unterbrochen von Skyline-Bildern der Großstädte. Der Stetl-Mythos weist über die jüdische Geschichte hinaus: Er wird zum universalen Topos für die Migration.

Jüdisches Museum, bis 27. September, Montag 10 bis 22 Uhr, Dienstag bis Sonntag 10 bis 20 Uhr.

Steffen Kraft

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