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Thomas Mann, links, geboren 1875, und der ältere Bruder Heinrich, geboren 1871

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Heinrich-Mann-Preis: Bruderliebe, Bruderzwist

Das Erbe der Aufklärung und die romantische Sehnsucht: Wie die Persönlichkeiten von Heinrich und Thomas Mann die Zerrissenheit der europäischen Kultur wiederspiegeln / Von Adam Zagajewski.

Eigentlich habe ich mich lange weniger für Heinrich Mann interessiert als für seinen Bruder Thomas. Ich erinnere mich an Sommerferien am Ufer der Popper unweit von Stary Sacz, einem verschlafenen Städtchen mit einem großen und schönen Markt. Direkt am Markt liegt ein Klarissenkloster. Das war in den sechziger Jahren, ich war 16 oder 17 und verbrachte die Ferien mit meiner älteren Schwester in einer Pension, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatte. Es hatten aber Relikte des unglaublich langweiligen Pensionslebens überlebt: Man spielte Bridge, klatschte und tratschte, pflegte Reste „gesellschaftlicher Formen“ und speiste gemeinsam. Das neue System hatte nicht alles Frühere zerstört.

Dort in der Pension „Przystan“, zu Deutsch „Zuflucht“, las ich den „Zauberberg“. Ich verstand nicht alles, war aber wild entschlossen, alles zu verstehen. Zugleich schirmte mich der Roman von allem ab, was mir in der für heranwachsende Intellektuelle typischen unbewussten Verachtung für das, wie Sokrates es nannte, „unreflektierte Leben“ der Aufmerksamkeit nicht wert schien. Also vor allem vor dem zweifellos nicht reflektierten Pensionsleben.

Ich kannte auch Heinrich Manns Romane, etwa die beiden dicken Bände über Heinrich IV., die sich, natürlich in polnischer Übersetzung, in der Bibliothek meiner Eltern befanden, aber ich hatte sie eher unkritisch gelesen. Es faszinierte mich, dass der „Zauberberg“ philosophische Ideen schier in Romanfiguren verwandelte. Letztlich ist ja ein gerade zum Leben erwachender junger Mann der beste Rezipient für einen Bildungsroman. Er glaubt, er wachse mit dem Roman. Es kommt zu einer Art Wettlauf – wer entwickelt sich schneller, der Roman oder der Leser? Wobei gegen den „Zauberberg“ nur schwer anzukommen war.

Thomas und Heinrich sprachen in Kalifornien nicht wie Brüder miteinander, sondern wie zwei leidlich befreundete Universitätsprofessoren

Auf der einen Seite der gesellschaftskritische Heinrich, der Dichter, Satiriker und Freund der französischen Kultur, der zeitweise in Armut lebte, im Exil vom weitaus berühmteren Bruder abhängig war und sich nicht immer à la hauteur der gesellschaftliche Ansprüche von Katia Mann befand. Auf der anderen Seite der vom Schicksal begünstigte Thomas, ein Josef des 20. Jahrhunderts, der aus jedem Brunnen herausfand, ein großer Künstler und doch entgegen allem Anschein ein einsamer Mensch. Und wohl auch ein wenig sympathischer, allzu sehr seiner Arbeit verschriebener, komplizierter, verschlossener und in erotischen Dingen gelinde gesagt unglücklicher Mensch. Heinrich war der ältere Bruder, doch angesichts des enormen Ruhmes und der weltweiten Bedeutung von Thomas verlor er nach und nach die Vorrangstellung des Erstgeborenen.

In Kalifornien, so notiert ein Beobachter, sprachen Thomas und Heinrich nicht wie Brüder miteinander, sondern wie zwei leidlich befreundete Universitätsprofessoren. Und doch waren sie Brüder und durchlebten das ganze tragikomische Spektrum der gegenseitigen Bewunderung und der Eifersucht. Es konnte nicht anders sein, vereint doch die literarische Begabung in sich auf überaus merkwürdige – aber eben auch ewige – Weise das Beste und das Schlechteste, Enthusiasmus und Neid.

Freundschaften sind eine Sache für sich. Brüder hingegen sind eingebunden in eine ganze Familienmaschinerie. Sie haben Verlobte, die schnell zu Ehefrauen werden und keinesfalls immer voneinander begeistert sind. Sie haben eine Mutter, die bange verfolgt, wie sich die Dinge entwickeln. Sie haben eine Schwiegermutter, genauer gesagt zwei Schwiegermütter, die nicht unbedingt derselben sozialen Schicht angehören. Und sie haben Geschwister, im Falle der Manns sogar zahlreiche.

Auf der einen Seite stehen die Ideen, auf der anderen steht die Familie. Eine höchst unangenehme Kombination. Denn die Familie kommt wunderbar ohne Ideen aus, die Ideen wiederum brauchen keine Familie. Deshalb kommt es vor, zumal im Erwachsenenalter, dass wir uns lieber mit unseren Freunden treffen als mit unseren Cousins oder Cousinen. Denn unter Freunden spielen die Ideen eine wichtige Rolle.

Heinrich Manns Memoiren zeigen uns die Größe, aber auch die Grenzen von Literatur

Mitte der siebziger Jahre erschienen die Briefe von Heinrich und Thomas Mann in polnischer Übersetzung. Ich war damals schon Schriftsteller, aber noch jung, das heißt, ich schrieb noch gern Rezensionen. Also besprach ich den Band. Ich war sehr beeindruckt, obwohl die Publikation historischen Charakter hatte, sich auf vergangene Zeiten bezog. Offensichtlich gab es in der Auseinandersetzung zwischen Heinrich und Thomas etwas Zeitloses, Wahres.

Vor dem Hintergrund der toten, falschen Harmonie, die als potemkinsche Fassade das Geistesleben in den Ländern des real existierenden Sozialismus kennzeichnete (und die in Polen schon bald der offenen Systemkritik weichen sollte) schienen mir die komplizierten Dilemmata der beiden hochbegabten Brüder bemerkenswert und sogar attraktiv. Beide sprachen als souveräne Menschen, die jeweils ganz unterschiedliche Entscheidungen trafen, absolut frei und authentisch. Sie vertraten keine Partei, ihre Auseinandersetzung atmete den Geist der Freiheit.

Adam Zagajewski
Adam Zagajewski

© slawek/creatice commons

Man soll sich nicht selbst zitieren, aber wenigstens eine Beobachtung meines sehr viel jüngeren Ichs scheint mir treffend. Menschen, Schriftsteller und Intellektuelle, die ganz unterschiedlichen geistigen Prinzipien folgen, haben oft kein großes Bedürfnis, mit ihren Gegnern zu diskutieren. Je weiter die Standpunkte auseinanderliegen, desto seltener kommt es zu Debatten. Doch Heinrich und Thomas, gefangen im Netz der Bruderschaft, mussten gleichsam miteinander ringen. Sie waren einander in Bruderliebe zugetan, und sie kannten Momente des Bruderhasses. Sie mussten streiten, weil sie Brüder waren. Hier überlagerten sich, was nur selten vorkommt, die Sphären der Ideen und der Familie. Es kam zu Spannungen, beinahe zum Brudermord.

Im Rückblick sehe ich, dass der Konflikt zwischen den beiden noch viel tiefer reichte. Es ging keineswegs nur um konkrete politische Positionen, um Heinrich Manns linksliberale Haltung im Gegensatz zu Thomas Manns – zumal bis Anfang der 20er Jahre – metaphysischem, beseeltem Nationalismus. Keineswegs nur um Heinrichs Pazifismus und Thomas’ (freilich auf den Schreibtisch beschränkte) ritterlich-kriegerische Einstellung in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Im Streit und in der Spannung zwischen den beiden damals noch jungen Brüdern offenbarte sich die tiefe Gespaltenheit der europäischen Kultur, der Widerstreit zwischen zwei gegensätzlichen Traditionen, die mal liebevoll, mal hasserfüllt miteinander rangen und eigentlich bis heute miteinander ringen, auch wenn der Streit inzwischen heute weniger hitzig geführt wird. Die Gleichgültigkeit ist gewachsen.

Die Gleichgültigkeit ist gewachsen, und doch bleibt die Spannung zwischen dem Erbe der Aufklärung und der romantischen Sehnsucht, die manchmal eine religiöse Färbung annimmt. Die beiden Seiten verstehen sich bisweilen nicht. Es kommt vor, dass sie einander verspotten oder schmähen. Es kommt aber auch vor, dass diese Spannung in der Brust eines einzigen Menschen wohnt. So war es auch im Fall unserer beiden Brüder.

Heinrich Mann hat uns – abgesehen von seinen immer noch populären Romanen und den sicher etwas in Vergessenheit geratenen, heute wohl vor allem von Professoren und Doktoranden gelesenen Essays – ein bemerkenswertes Buch hinterlassen: den großen autobiografischen Traktat „Ein Zeitalter wird besichtigt“. Stilistisch uneinheitlich, liest er sich an manchen Stellen wie eine gemütliche Plauderei, andere Stellen erinnern an eine Geschichtsvorlesung.

Nur ab und an erklingt ein ganz persönlicher Ton, der hier das Interessanteste ist. Der Autor spricht über seine Liebe zu Frankreich und zur französischen Kultur, es gibt aber auch aktuelle Passagen zum andauernden Zweiten Weltkrieg (den Abschluss des Werks datiert Mann auf den 23. Juni 1944). Fast könnte man von einem Abschied von der Literatur sprechen, der freilich auf einen edlen Impuls zurückgeht – Heinrich Mann richtet noch einmal über seine Epoche.

Seine Memoiren zeigen uns die Größe, aber auch die Grenzen der Literatur. Ein großer Schriftsteller rechtet mit der Welt, er hasst, vollkommen zu Recht, Hitler und den Faschismus. Doch er schreibt auch ein Kapitel über die Moskauer Prozesse, in dem er uns einreden möchte, diese seien ein hervorragendes Beispiel dafür, was die Justiz in der Abrechnung mit den Verrätern der Revolution zu leisten vermöge.

Heute, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges und am Beginn des nächsten, weiß jeder, was diese Prozesse waren. Daher geht es mir nicht darum, den Verfasser der „Kleinen Stadt“ zu verurteilen oder zu zensieren, das wäre zu billig. Mir geht es bloß um eine melancholische Feststellung: Die engagierte, kämpfende Literatur steht bisweilen hilflos vor der komplexen Wirklichkeit. Man wünschte sich fast auch für die Literatur ein Äquivalent zu dem berühmten Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel, dem zufolge jedes logische System entweder widersprüchlich oder unvollständig ist (weshalb zu seiner Bewertung immer ein anderes System benötigt wird).

Heinrich Mann war kein vollkommener Schriftsteller (gibt es das überhaupt?). Doch steckt etwas Frappierendes in der Gestalt dieses Künstlers, dem das Menschliche nicht fremd war, der von der Pferdetram sprang, um eine Puccini-Melodie anzuhören, und der das Glück (und das Pech) hatte, dass sein wenig glücklicher, aber überaus scharfsinniger Bruder nach Perfektion im Ausdruck strebte. Eines Künstlers, der in schrecklichen Zeiten lebte und doch Anstand, Güte und Maß bewahrte, der die französische Literatur ebenso liebte wie die französische Küche und den französischen Wein.

Es gab keinen Zweiten wie ihn und wird auch sicher keinen geben. Heinrich Mann, der Freund Heinrichs von Navarra, der Schutzpatron der mittellosen Emigranten und all derer, denen das Privileg der Erstgeburt genommen wurde.

Adam Zagajewski, 1945 im heute ukrainischen Lemberg geboren, gehört zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart – nicht nur Polens. Er hat sich aber auch als Erzähler und Essayist einen herausragenden Namen gemacht. Aufgewachsen im schlesischen Gleiwitz, studierte er Philosophie und Psychologie in Krakau, wo er heute wieder lebt. Er engagierte sich früh in der Bürgerrechtsbewegung und ging nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981/82 über West-Berlin und die USA ins Pariser Exil.

Seit 2007 lehrt er regelmäßig Literatur an der University of Chicago. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt der Gedichtband „Unsichtbare Hand“ und sein „Tagebuch ohne Datum“ mit dem Titel „Die kleine Ewigkeit der Kunst“. Am gestrigen Freitagabend erhielt Zagajewski in der Berliner Akademie der Künste den mit 8000 Euro dotierten Heinrich-Mann-Preis für Essayistik. Wir dokumentieren seine von Bernhard Hartmann ins Deutsche übersetzte Dankesrede in gekürzter Form.

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