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Kultur: Heiße Ohren

Zum Abschluss des Festivals „À l’Arme“.

Ein Dilemma der besonderen Art: Parallelveranstaltungen, die den Besucher in Entscheidungsschwierigkeiten stürzen. Während im Tanzsaal vom Radialsystem Sven-Ake Johansson, ein Altmeister der freiwillig unfreiwilligen Komik, zufallsbestimmte Ausschnitte aus dem Konversationslexikon mit ernster Miene und strengem Ton zu musikalischer Begleitung vorträgt, kann man sich alternativ im großen Saal von den vereinigten Berserkern Keiji Haino und Peter Brötzmann – mit Gehörschutz oder ohne – gepflegt die Ohren wegbrezeln lassen. Und hat man gerade die Gelegenheit ergriffen, den holländischen Veteranen des Punkjazz Andy Moore und Colin McLean beim langsamen Aufbau einer vielschichtigen Rhythmus- und Klangtextur aus E-Gitarre, Laptop und Schuhbürste hin zu einem entfesselnden Höhepunkt zu folgen, tut man das in der Gewissheit, ein ähnlich lohnendes Simultanereignis zu verpassen. Das ist ärgerlich und erfreulich zugleich, denn wer würde sich über ein Überangebot an Qualität beschweren?

Die stilistische Diversität des „À L’Arme“-Programms ist intendiert. Genau dieses Ineinandergreifen der Stile und Generationen bildet das Alleinstellungsmerkmal des Festivals und macht seinen Flair aus. Zum Glück verfällt der künstlerische Leiter Louis Rastig mit seiner Programmvielfalt nicht komplett dem Vollständigkeitswahn. Der eine oder andere Retro-Touch, etwa die Ornette Coleman Anthology als Hommage an den Urvater des Free Jazz, erweist sich als anachronistische Gegenkraft zum ansonsten vorwärts strebenden Gestus des Festivals. Das stets ausverkaufte Festival wirkt wie ein internationales Familientreffen. Die Stammgäste der Berliner Total Music Meetings von damals sind wieder gut vertreten und mischen sich mit einer jüngeren Generation zu einem heterogenen, stilistisch offenen Publikum.

Am Eröffnungsabend tun gleich hoch gehandelte Größen wie der Solo-Trompeter Peter Evans und Publikumsmagnet Neneh Cherry ihre Wirkung. Als innovatives Highlight des Abends erweist sich jedoch gerade die musikalische Erstbegegnung von Ken Vandermark (Saxofon), Okkyung Lee (Cello) und Louis Rastig (Klavier). Bei der nahezu hellsichtigen Sensibilität der Spieler füreinander und der zugleich initiativen Ausdruckskraft mag man kaum glauben, dass sie sich noch nie zuvor begegnet sind.

Nicht weniger mitreißend gestaltet sich eine musikalische Wiederbegegnung zum Abschluss des Festivals. Erstmals nach fast zehn Jahren spielen der Berliner Rockgitarrist Caspar Brötzmann und die vorwiegend aus der Neuen Musik bekannten Künstler Marino Pliakas (Bass) und Michael Wertmüller (Schlagzeug) wieder zusammen – und das mit einer leidenschaftlichen Freiheit und Vertrautheit, als wäre seit dem letzten gemeinsamen Auftritt kein Tag vergangen. Ein Festivalausklang, der zum hoffnungsvollen Fazit verleitet, dass stilistische Grenzen auflösbar sind und dieser Weg noch viel Neues zu entdecken bereithält – nicht nur für den Jazz. Barbara Eckle

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