zum Hauptinhalt

Kultur: Helene Holzman: Miesbach ist überall

Das Buch wiegt schwer in der Hand, aber man legt es nicht leicht wieder weg. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser erzählt bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises in der Münchner Universität eine lange Geschichte dazu.

Das Buch wiegt schwer in der Hand, aber man legt es nicht leicht wieder weg. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser erzählt bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises in der Münchner Universität eine lange Geschichte dazu. "Dies Kind soll leben" (Verlag Schöffling & Co.) sind die Aufzeichnungen der Malerin, Buchhändlerin und Lehrerin Helena Holzman, sie stammen aus den Jahren 1941-1944. Geschrieben wurden sie im litauischen Kaunas, wo die Halbjüdin Helene Holzman hauptsächlich wegen ihres Mannes Max Holzman lebte. Als die Pogrome beginnen, verschwinden nacheinander Max und dann Marie Holzman, die eine gemeinsame Tochter. Beide kommen nie mehr zurück. Die andere Tochter, Margarete Holzman, überlebt.

Mit der Mutter reist sie 1965 nach Deutschland aus. Helene Holzman stirbt 1968 bei einem Autounfall, ausgerechnet. Viel später zeigt Margarete Holzman Reinhard Kaiser die drei Kladden mit den Erinnerungen ihrer Mutter. Dann machen sie ein Buch daraus, ein Buch über das Getto, die Täter und die Opfer. Es ist ein Geschichtenbuch, wenn man so will, denn die Künstlerin und Max-Beckmann-Schülerin Helene Holzman gibt denen, die dem Grauen gegenüberstanden, ihre Namen zurück: Fruma, Dolly, Lyda etwa - Menschen, die sie vor der SS rettet. Aus der Abstraktion wird etwas Persönliches. Nicht, dass dies weniger peinigend wäre, doch der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, Laudator bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, hat schon Recht, wenn er dem Buch besonders seine erzählerische Kraft rühmt, die einen wiederholt berührt, traurig oder zornig macht. Auch in diesem Sinne ist "Dies Kind soll leben" den Tagebüchern Viktor Klemperers durchaus vergleichbar.

Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude erinnerte in seiner Rede daran, dass es immer nur so aussehe, als wüssten wir Heutigen mittlerweile fast alles über die Jahre zwischen 1933-1945. Ude hat eine sehr präzise, aufrichtige Art, von Unangenehmem und Bedrückendem zu handeln. Zuletzt sprach in München die Frau, von der das Buch in seinem Titel handelt: Margarete Holzman. Freundlich aber bestimmt zog Margarete Holzman eine Parallele zwischen den Geschwistern Scholl und ihrer Mutter. Es habe ein "innerer Zwang" bestanden, sich zu widersetzen. Warum nicht mehr so dachten? Margarete Holzman erzählt noch eine Geschichte. Bevor sie als Übersetzerin anfing in Gießen zu arbeiten, fand sie mit ihrer Mutter 1965 eine erste Bleibe in der Nähe vom Tegernsee: Miesbach. Sie erhielten ihre ersten deutschen Pässe. Margarete Holzman sagte, sie habe lange nicht mehr an die Zeit damals gedacht, erst dieser Tage wieder, als sie ihre Rede schrieb. Die Rede schließt mit Dank. Der Satz steht mittendrin. Er heißt: "Ich hatte nicht das Gefühl, dass man Zuwanderer besonders mochte", und man vergisst ihn nicht, auch wenn das Streichquartett dann eher Unbeschwertes von Mendelssohn spielt.

Zur Startseite