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Kultur: Hello, Democracy!

Die Berlinale zeigt Kurzfilme, die zur Unterstützung des Marshall-Plans gedreht wurden

Von Caroline Fetscher

Es radelt der Bäckerlehrling durch Marburgs mittelalterliche Gassen, früh am Morgen, zu beschwingter Musik. Oben aus dem Fenster baumelt ein Korb an einer Schnur. Flink legt der Radler eine Tüte frischer Brötchen hinein. Die Hausfrau zieht den Korb hoch. Eine Idylle. Doch der deutsche Vater brüllt: „Warum ist der Kaffee kalt?“ Verstört ist das Kind, begütigend spricht die Gattin. Doch der Mann stiebt zornig aus dem Haus. Und draußen, was begegnet ihm da? Laut dröhnt es aus einem Megaphon: „Lernen Sie diskutieren! Die Gleichberechtigung der Frau! Heute Abend!“ Deutschlands Nachkriegsbürger werden eingeladen zur Debatte über das Debattieren. Demokratie lernen stand auf dem Programm. Alle machen eifrig mit. Hatte nicht, sagt eine Seminarleiterin, schon 1529 das Marburger Religionsgespräch diese „deutsche Tradition“ begründet?

22 Minuten dauert Eva Krolls Kurzfilm „Und was meinen Sie dazu?“, der 1950 im Auftrag des European Recovery Program (ERP) gedreht wurde. 200 solcher Kurzfilme entstanden im Auftrag des Marshall Plans in allen Teilen Westeuropas. Gesponsert von den Alliierten, zugeschnitten auf den Geschmack des Landes, wurden sie in den Kinos als Vorfilme gezeigt. Heute sind sie kostbare Fundgruben, nicht allein für Historiker.

Schon 2004 nahm die Berlinale das heute als Raritäten-Revue daherkommende Filmschaffen der Marshall Plans in ihr Repertoire auf. Der Schwerpunkt von „Selling Democracy – Winning the Peace“ liegt dieses Jahr beim Thema Didaktik und auf der Spannung zwischen Ost und West im beginnenden Kalten Krieg. 2006 läuft das von Sandra Schulberg initiierte Projekt aus. Im Begleitheft zu den Filmen und Workshops erinnert Kurator Rainer Rother vom Deutschen Historischen Museum daran, dass die Berlinale 1951 unter den Fittichen des Marshall-Plans ins Leben gerufen wurde.

Im selben Jahr entstand auch die Münchner Produktion „Der leere Stuhl“: 16 Minuten mit Herrn Schneider. „Wo nur Herrchen bleibt?“ fragt Frauchen den Hund. Herrchen wollte doch eine wichtige öffentliche Sitzung besuchen? Nein, er hockt in der Wirtschaft. Verdrossen brütet der Mittelständler über der Unbill des Lebens. Seine Partei will nicht so wie er, der Gemeinderat ebenso wenig und schon gar nicht das Finanzamt. Da ruft „die Stimme der Vernunft“ und setzt sich unsichtbar zu ihm an den Kneipentisch. Schneider horcht auf. Richtig – überall hätte er ja mitreden können. Aber stets war sein Stuhl leer. Aha! Er rafft sich auf, und Frauchen freut sich.

Was heute wirken mag wie ein früher Loriot-Sketch, war damals bitter nötig und erfüllt von tiefem, pädagogischem Ernst: Erst Reeducation, dann Reorientation. Auf die sogenannten „Atrocity-Movies“, die dem deutschen Publikum die Realität der Konzentrationslager vor Augen führten, folgte die zweite kollektive Therapiephase, in der die Marshall-Filmer eine Symbolwelt präsentierten, die jene der Barbarei ablösen sollte.

Mit dem Marshall-Plan wird heute fast ausschließlich die ökonomische Hilfe der USA nach 1945 assoziiert, und Dutzende der Filme geben dazu auch Auskunft. Von Norwegen bis Sizilien wollten die USA, schon vor dem Kalten Krieg, die Wirtschaft des Armenhauses Europa sanieren. Turbinen werden angetrieben, Waren rollen über Schienen und Straßen, Hafenkräne und Förderbänder sind in Bewegung, pralle Fischernetze schwenken ins Bild, Düngerfabriken und Milchpulverwerke arbeiten auf Hochtouren, und volle Regale beweisen wortlos den Erfolg des Aufbaubooms, wie er in Stuart Schulbergs Zehnminutenfilm „Zwei Städte“ von 1949 beschworen wird.

Da sieht man im Osten Dresden, Propaganda und Schutt, während im Westen Stuttgarts Läden und Bahnhöfe betriebsam auf die Zukunft zuwuseln. Aber der Marshall-Plan war auch eine pädagogische Produktionsstätte ersten Ranges. Nachdem Berliner Studenten der Humboldt-Universität gegen „Pflichtvorlesungen“ rebelliert hatten, gründeten sie im Westen und bei Kerzenlicht die „Freie Universität“. – „Das war ja alles wirklich so!“, flüstert eine pensionierte Historikerin gerührt im dunklen Kinosaal. Wohl kaum einer, sagt sie, habe den Friedensnobelpreis mit mehr Recht erhalten als George Marshall im Jahr 1953.

Alle Filme im Zeughauskino, DHM, Eingang Kupfergraben, ab 17 Uhr.

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