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Kultur: Hellwach

Das Chamber Orchestra of Europe beim Musikfest.

Jede Stimme zählt bei der Bundestagswahl am 22. September – aber auch in den Konzerten, die Winrich Hopp, dem künstlerischen Leiter des Musikfests Berlin, am Herzen liegen: Vom Trio über sieben- respektive 14-köpfige Ensembles bis hin zur Besetzung mit drei Dutzend Instrumentalisten weitet das Chamber Orchestra of Europe (COE) im Laufe des Sonntagabends den Klangraum sukzessive aus. Während die Kanzlerkandidaten ihr TV-Duell austragen, ist in der Philharmonie ein Abend der bewundernswürdigen stilistischen Flexibilität zu erleben. Hellwach müssen die Musiker hier sein, den Geist vier verschiedener Komponisten erspüren, gewagte historische Sprünge inbegriffen.

Gleich zu Beginn ein Glücksmoment: Gerade weil Lorenza Borrani, die Konzertmeisterin des COE, so vertraut ist mit dem Klarinettisten Romain Guyot und dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard, gelingen Bela Bartoks „Kontraste“ so zwingend. Zum Äußersten entschlossen, traktiert die Geigerin im Kopfsatz ihr Instrument. Tänzerisch-virtuos hält der Holzbläser dagegen und erinnert dabei an Benny Goodman, den Widmungsträger des 1938 vollendeten Werkes. Der Pianist wiederum bleibt zunächst im Hintergrund, setzt dann aber im langsamen Satz entscheidende, feine Akzente, während seine Partner murmelnd Innenschau betreiben. Im Finale sind dann derart virtuos vermittelte Stimmungswechsel zu erleben, dass man die drei eingeschworenen Kammermusikpartner glatt als Klangschauspieler bezeichnen möchte.

Zur interessanten Sozialstudie wird Leos Janaceks herbes Concertino: Aimard versucht vom Flügel aus, Koalitionen zu schmieden, wird aber zunächst von einem stoffeligen Horn, dann von der kecken Klarinette zurückgewiesen, bevor im dritten Satz alle sechs Mitspieler in Opposition gehen. Was den Solisten zu noch mehr Virtuosität anstachelt, so dass er am Ende die Kontrahenten vor sich hertreiben kann.

Beim Kammerkonzert von György Ligeti, entstanden 1970 im Auftrag der Berliner Festwochen, versammeln sich dann 13 Instrumentalisten unter Aimards Leitung auf dem Podium: ein musikalischer Spaß, bierernst vorgetragen. Nie passiert, was der Zuhörer erwartet, das aber konsequent. Klassische Hörerwartungsverweigerungsmusik, die ästhetisch angestaubt wirkt im direkten Vergleich mit den sie einrahmenden älteren Kompositionen.

In zeitloser Schönheit leuchtet zum Abschluss Mozarts Klavierkonzert KV 453 auf. Eine ideale Wahl für diesen Teamgeist-Abend, weil in der 1784 entstandenen Partitur der solistische Schaueffekt zugunsten einer engen Verzahnung von Klavier- und Orchesterlinien weitgehend in den Hintergrund tritt. Wenn es zudem ganz ohne Dirigenten gehen soll, wenn Aimard sich nur auf seinen Part konzentriert und das Einsatz-Geben ganz der COE-Konzertmeisterin überlässt, dann muss im Kollektiv wirklich jeder aufmerksam die Stimmen der anderen verfolgen und gedanklich fortspinnen. Gelebte Basisdemokratie in G-Dur. Frederik Hanssen

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