zum Hauptinhalt

Kultur: Helmut Gollwitzer: Prediger zwischen den Gräbern

Ob je ein Pfarrer ungleicheren Menschen die Leichenreden zu halten hatte? Der Pastor sprach innerhalb weniger Wochen am Grab zweier Menschen, deren Denken und Handeln unterschiedlicher nicht sein kann.

Ob je ein Pfarrer ungleicheren Menschen die Leichenreden zu halten hatte? Der Pastor sprach innerhalb weniger Wochen am Grab zweier Menschen, deren Denken und Handeln unterschiedlicher nicht sein kann. Der eine von ihnen starb im Juli 1976 als alter Mann, die andere 41-jährig zwei Monate vorher durch Selbstmord. Er hatte das Amt des Bundespräsidenten inne, sie galt als Staatsfeindin. Er war mehrfach Minister gewesen, sie war prominentes Mitglied der als terroristische Vereinigung verbotenen Rote Armee Fraktion: Gustav Heinemann und Ulrike Meinhof. Beerdigt hat sie Helmut Gollwitzer. Was sagte er an ihrem Grab? Was verband diese drei zu Lebzeiten miteinander, dass sich ihre Linien am Ende kreuzten?

Noch vom Sterbebett aus äußerte sich der ehemalige Bundespräsident über die gerade verstorbene Terroristin: in einer Weise, für die es Mut braucht und die ihn kennzeichnete. "Sie ist jetzt in Gottes gnädiger Hand", rief er der Verstorbenen nach, "und mit allem, was sie getan hat - so unverständlich es für uns war -, hat sie uns gemeint." Seine Worte zielten in das Lager derer, die die militante Bewegung der politisch Linken vom sicheren Hort der Selbstgerechten aus sahen und nicht begriffen, dass Protest und Gewalt der vergangenen Jahre auch eine Anfrage an die eigene Glaubwürdigkeit waren.

Gustav Heinemann verstand nicht, warum viele aus der jungen Generation die Bundesrepublik ablehnten und zum Teil bekämpften. Vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung war sie verbesserbar. "Nicht weniger, sondern mehr Demokratie ist die Forderung, ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben", forderte er in seiner Antrittsrede als Präsident. Aber er sah auch: Die Bundesrepublik war der beste Staat, den die deutsche Politik hervorgebracht hat. Das wollte er der protestierenden Jugend vermitteln. In den Tagen seiner Wahl zum Bundespräsidenten traf er sich deswegen in Berlin mit Vertretern der Studentenbewegung. Als ihm später Studenten sagten, ohne ihn wären sie ins militante Abseits geraten, freute ihn das.

Ulrike Meinhof interpretierte Heinemanns Dialogangebot kritisch, wertete seine Wahl als "Sieg der Faschisierer": "Er streut Sand in die Augen, weil seine rechtsstaatliche Redlichkeit im Widerspruch steht zur tatsächlichen Entwicklung", schrieb sie. Heinemann ließ den Gesprächsfaden zu ihr dennoch nicht abreißen. Noch im Dezember 1974 schrieb er der Hungerstreikenden ins Gefängnis nach Stammheim und bat sie, den lebensgefährdenden Streik zu beenden. Sie antwortete ihm, und er schrieb ihr ein weiteres, letztes Mal.

Heinemanns Dialogbereitschaft war keine Zögerlichkeit in der Sache. Unvergessen bleiben manche seiner Aussprüche im Bundestag. Christus sei nicht gegen Karl Marx, sondern für uns alle gestorben, sagte er. Unvergessen auch seine Worte nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Heinemann war Justizminister in der großen Koalition und sprach über Radio und Fernsehen zu den Menschen. Sein Appell richtete sich vor allem an die Älteren, sich selbst zu fragen, ob sie den Kontakt mit Teilen der Jugend nicht verloren hätten. Am Anfang seiner Rede steht der später oft zitierte Satz: "Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen." Diese Rede trug dazu bei, dass Gustav Heinemann für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde.

In der selben Nacht, in der die Rede gesendet wurde, machte Helmut Gollwitzer sich in Berlin auf den Weg zur Technischen Universität. Der Theologieprofessor wurde vom Berliner Bischof Kurt Scharf begleitet. Seit drei Tagen, seit dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke, trafen sich hier Tausende. Die Studenten waren aufgewühlt, empört über den harten Polizeieinsatz und über die Verhaftungen von Kommilitonen. Während Heinemann in seiner Ansprache auf die Älteren einwirkte, gelang es Gollwitzer, die Jüngeren von Ausschreitungen abzuhalten. Später wurde ihm von seinen Gegnern vorgeworfen, er habe in jener Nacht zwar zum Gewaltverzicht gegen Personen aufgerufen, Gewalt gegen Sachen jedoch erlaubt. Gollwitzer bestritt das, obwohl es danach unabhängige Zeugen bestätigten. Als Rudi Dutschke zwölf Jahre nach dem Attentat an den Spätfolgen starb, beerdigte Helmut Gollwitzer ihn.

Gollwitzer war ein Weggefährte und Freund Heinemanns aus der Zeit des Kirchenkampfes. Er hatte Niemöllers Pfarrstelle in Dahlem versorgt, als der im Konzentrationslager saß. Ulrike Meinhof kannte er aus der Zeit der Anti-Atombewegung Ende der fünfziger Jahre. Er galt zur Zeit der Studentenbewegung auch bei Teilen der militanten Linken als Vertrauensperson. Schon früher hatte er an den Särgen höchst ungleicher Menschen gesprochen. Bei der Trauerfeier für Elly Heuss-Knapp 1952 in der Bonner Lutherkirche erinnerte er an sie als Liebhaberin von Blumen und Gedichten.

15 Jahre später, im Juni 1967, war für Gedichte und Romantik nicht die Zeit. Gollwitzer musste wieder eine Leichenrede halten. Diesmal hatte sich die Trauergemeinde aber nicht in einer Kirche versammelt, sondern auf den Straßen Berlins. Der Prediger sprach von der Pritsche eines Lastwagens aus, auf dem der Sarg aufgebahrt war. Er hatte mehr Zuhörer als bei der Beerdigung der Präsidentengattin. 20 000 Studenten waren gekommen, um dem erschossenen Benno Ohnesorg das letzte Geleit zu geben.

Gollwitzer nannte die Gegensätze, die auch ein Tod nicht versöhnen könne. "Aber ein Tod verpflichtet zur Versöhnung, das heißt Gespräch über die Trennung hinweg mit dem Ziele friedlichen Zusammenwirkens", sagte er. Auch die Worte, die er im Mai 1976 am Grab Ulrike Meinhofs wählte, haben nichts von Vertröstung, sondern sind ein Fanal in einem Kampf, der nicht inhuman werden soll. Behutsam kritisierte er die Neigung vieler, ihre Ziele auch mit Gewalt zu verfolgen, sprach von der Einsamkeit im Kampf der Befreiung gegen Unterdrückung, und fragte: "Kommt bei all unserem Kämpfen nicht mehr heraus als dies, dass alles umsonst ist? An diesem verzweifelten Alleinsein nimmt Jesus von Nazareth Anteil in der Nacht von Golgatha. Darum kann er in allen Nächten dabei sein, wo einer nicht weiter weiß, als einer, der weiter weiß. Gibt es unter uns Sozialisten ein paar, die von daher Hilfe und Orientierung bekommen, dann wird das vielen unter uns, die daran sind, aufzugeben und schlapp zu machen, helfen, durchzuhalten: dann wird das auch helfen, dass der Kampf für Menschlichkeit nicht selbst unmenschlich wird, sondern menschlicher und hoffnungsvoller."

Wohl selten haben Grabesworte so viele Zwischenrufe, so großen Widerspruch ausgelöst. Noch auf dem Friedhof fielen Fundamentalisten der Kirchen wie der Demonstranten über den Pfarrer her. Es folgten Hetzartikel und Leserbriefe. "Professor der Theologie verbreitet verführerische Irrlehren", titelte ein Monatsblatt. Gollwitzers Trauerrede lässt keinen Zweifel daran: Die Kirche ist nicht die Palliativstation einer mehr oder weniger kranken Gesellschaft. Aber sie hält Worte bereit, die Gewalt verhindern können und auf Versöhnung zielen.

Heute ist eine andere Zeit. Die politischen Debatten vor einigen Monaten über die Rolle Joschka Fischers in der Protestbewegung der späten 60er Jahre scheinen manchen Selbstverliebten immer noch interessanter als eine Analyse über Situation und Wirklichkeit unserer Jugend. Aber das Extreme und Militante gibt es auch heute. Es hat keine langen Haare mehr und kleidet sich nicht mehr in Wollpullover und Turnschuhe. Es kleidet sich in Bomberjacke und Nagelschuhe. Sein Kennzeichen ist die Glatze.

Gewiss: Zwischen den Bewegungen gibt es viele Unterschiede. Einer besteht wohl darin, dass sich der Linksextremismus aus intellektueller Überlegenheit heraus taub gab für die Argumente der Vernunft; der Rechtsextremismus unserer Tage ist es in seiner Breite wohl aus intellektueller Unterlegenheit heraus. Eine Kirche freilich, die sich ihrer Verantwortung für Staat und Gesellschaft vergleichbar bewusst ist wie Helmut Gollwitzer das deutlich gemacht hat, muss andere Antworten geben als solidarisch-glatte Mitleidsadressen und moralische Appelle. Sie hätte keine Zeit für die Frage, warum es sie eigentlich noch gibt. Sie stünde mitten im Leben. Sie zeigte, dass christliche zuerst wache Zeitgenossenschaft ist, dass christliches Denken mit politischem Handeln zu tun hat. Dafür hat Gollwitzer in den bewegten 70er Jahren ein Beispiel gegeben, ohne dass Etiketten wie "präsidialer Hofprediger" oder "Hauspastor von Apo und RAF" ihm etwas hätten anhaben können.

Gustav Heinemann starb am 7. Juli 1976. Helmut Gollwitzer saß zuletzt an seinem Krankenlager und sang ihm Lieder aus dem Gesangbuch vor. Die Grabrede, die er ihm hielt, abgedruckt in dem Büchlein "Nachrufe" (Kaiser-Verlag München 1977), steht direkt hinter der für Ulrike Meinhof. Wo anders als in einer lebendigen Demokratie finden sich die Namen von Menschen in einer Reihe, deren Leben so unterschiedlich war?

Matthias Schreiber

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false