zum Hauptinhalt

Kultur: Herbstzeitlose

MUSIKZIMMER Diedrich Diederichsen über Sven Ake Johanssons NewYork-Songs Sven Ake Johansson muss man eigentlich in einer Berliner Zeitung nicht mehr vorstellen. Vor ungefähr 35 Jahren nahm er mit dem Trio Moderne Nordeuropäische Dorfmusik die „Westberliner Stadtmusik“ auf, die am Anfang der Free-Jazz- und Free-Music-Tradition steht – und der experimentellen Rockgeschichte dieser Stadt.

MUSIKZIMMER

Diedrich Diederichsen über

Sven Ake Johanssons NewYork-Songs

Sven Ake Johansson muss man eigentlich in einer Berliner Zeitung nicht mehr vorstellen. Vor ungefähr 35 Jahren nahm er mit dem Trio Moderne Nordeuropäische Dorfmusik die „Westberliner Stadtmusik“ auf, die am Anfang der Free-Jazz- und Free-Music-Tradition steht – und der experimentellen Rockgeschichte dieser Stadt. Seitdem ist Johansson als Schlagzeuger, Aktivist, Labelbetreiber, Sänger, Sound-Künstler, Dichter, Bildender Künstler, Jazzer, Komiker und Komponist neuer Musik hervorgetreten. Als Nummer 32 der Reihe „Fragmen“ hat Stefan Fricke soeben eine Art Monografie über Johansson herausgegeben. Und gerade war im Beiprogramm der „Conceptualisms"-Show in der Akademie der Künste „MM schäumend“ zu hören, ein Konzert für fünfzehn Handfeuerlöscher.

In den letzten Jahren hat Johansson öfter solche an Fluxus-Traditionen anknüpfende Kompositionen für musikalische Maschinen (Traktoren, Windgeneratoren etc.) geschrieben und aufgeführt. Doch das letzte Mal sah ich ihn live im Duett mit Anette Krebs: Sie lockte aus einer elektrischen Gitarre, er aus einem normalen Drum Kit die kleinsten und leisesten Soundgestalten in die rau-laute Öffentlichkeit einer Kneipe.

Doch eigentlich soll es um etwas ganz anderes gehen. Nach dem 11. September 2001 kursierte eine kuriose Liste von Songs, die angeblich von Radiosendern nicht mehr gespielt werden dürfen, weil man ihre Texte auf das Ereignis beziehen könnte. Die Begeisterung, mit der die Liste nacherzählt, erweitert und vervollständigt wurde, erinnerte an die alte Funktion, die Popsongs ausüben können, gerade in totalitären Staaten und Zeiten. Sie handeln immer auch von etwas Anderem, sie haben immer auch einen Subtext – und der ist nie zufällig, aber man darf ihn nie zu gezielt produzieren, dann ist er nicht nur langweilig, sondern auch überflüssig.

Beim 11. September kann man davon ausgehen, dass die Fantasie, ein Song wie „Burning Down The House“ oder „It´s Raining Men“ sei verboten, vor allem dazu beigetragen hat, den Infantilismus anlässlich des Ungeheuerlichen zu artikulieren: die verbotene Assoziation, den legendären Lachzwang beim Begräbnis.

Sven Ake Johansson hat nun diese Legende von den verbotenen Songs zum Anlass genommen, sein wahrscheinlich erstes reines Song-Album aufzunehmen: Sein häufiger Partner Rüdiger Carl wechselt ebenfalls das Instrument und setzt sich ans Klavier, Joe Williamson spielt Bass („Hudson Riv“, Grob-Records). Johansson singt 13 Standards des Jazz-Songbooks von „Autumn in New York“ bis zu „All The Things You Are“ und zelebriert ihre, nun über den alten Anlass zur subtextuellen Sinnsuche weit hinausgehenden Doppeldeutigkeiten.

Poesie des Plüsch

Johansson ist kein Sänger und schon gar nicht einer dieser delikaten Delirien, die zur Poesie des Plüsch und neblig umflorten Narrationen einladen. Er singt aber auch nicht „so schlecht, dass es wieder gut ist“, sondern sehr absichtsvoll. Er ist ein Künstler, und er legt sich sein Material zurecht. Mit kantigen Konsonanten und trockenen Vokalen rekonstruiert er die Texte dieser tausendfach verträumten Atmosphäre-Erpressungen mit insistierendem Charme. Sein schwedischer Akzent funktioniert wie eine hermeneutische Schaufel und holt aus den Schächten verschwommener Hotelnächte die tatsächlichen Lyrics heraus. Etwa das Motto der CD: „Glittering crowds and shimmering clouds in canyons of steel“, das plötzlich in den Ohren steht wie das apodiktische Motto eines ungeschriebenen Abenteuerromans.

Und dann passiert trotzdem etwas Unerwartetes. Nicht Aufklärung und Entzauberung, kein Substrat und keine Eindeutigkeit bleiben nach dieser zielgerichteten Behandlung ziellos schweifender Projektionsflächen, sondern eine neue, nun ganz andere Öffnung. Was selten einmal einem Lehrer gelang, der uns einschärfte, einen Satz doch noch einmal ganz genau uns selbst laut vorzulesen, gelingt „Hudson Riv“ mit Leichtigkeit: Dass man die von den englischen Worten für Herbst, New York, Du und Mond beschworenen Entitäten da draußen in der Welt mit bizarrer, psychotroper Deutlichkeit in seinem Zimmer sitzend vor sich zu haben glaubt. Gelungene Beschwörung. Man hat sie in der Hand. Da sieht man: Sie haben weit mehr als nur ein zweites Leben. Diesen Herbst wird Johansson 60 Jahre alt.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false