zum Hauptinhalt

Kultur: Herr Kerr

Autoren und Kritiker auf der Leipziger Buchmesse

Von Gregor Dotzauer

Schriftsteller und Kritiker, heißt es gewöhnlich, sind einander fremde Wesen. Sozial betrachtet verhalten sie sich zueinander wie Wirt und Parasit – was deshalb ein schiefes Bild ergibt, weil der Wirt von der Aufmerksamkeit des Parasiten manchmal abhängt. So oder so gibt es, gerade weil die Berührung bis hin zur Gefahr der Kumpanei sich auf Dauer kaum vermeiden lässt, gute Gründe, warum Schriftsteller und Kritiker einander sogar fremd bleiben sollten.

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man ihre Rollen als Schreibende untersucht. Es versteht sich von selbst, dass der Kritiker in dem Moment, in dem er über Literatur schreibt, der Vermittelnde ist und nicht der Schaffende. In der Regel schreibt er aus dem analytischen Abstand heraus, einer Perspektive, die der in sein Material vergrabene Schriftsteller gar nicht einnehmen kann. Weil sich auch Schriftsteller regelmäßig als hervorragende Literaturvermittler betätigen, versteht es sich ebenfalls von selbst, dass ein und dieselbe Person ihre jeweilige Rolle wählen kann. Jeder Schriftsteller, der sein Handwerk mit Verstand betreibt, ist dichtend und erzählend ein Kritiker anderer Schriftsteller.

Auch Schriftsteller müssen lesen gelernt haben, bevor sie halbwegs verstehen, was sie schreiben. Wenn der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer in einer „Liebeserklärung“ an die dieses Jahr mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichnete Literaturkritikerin Ina Hartwig gestand, das Lesen von Céline, Genet und Proust nicht unwesentlich durch deren „Klarheit und Licht“ verbreitende Texte gelernt zu haben, war dies also, nachdem Hartwig zuvor schon zwei Laudationes auf Meyer gehalten hatte, nicht nur eine schöne Umkehrung der Rollen. Es war die andere Seite seiner selbst, und in der ganzen Emphase, die ihn dabei trieb, selbst ein Stück Literaturkritik.

Es gebe, so erklärte Ina Hartwig in ihrer Dankesrede, keine Krise der Kritik, es gebe nur eine Krise ihrer Rahmenbedingungen. Daran stimmt, dass auch unter den Jüngeren – inmitten eines Meers bloßer Meinungen über Bücher – an klugen Köpfen kein Mangel herrscht. Wie aber gerade die ökonomisch prekäre Situation des freien Kritikers nicht die Substanz seiner Arbeit angreifen soll, ist noch lange nicht ausgemacht. Gregor Dotzauer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false