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Kultur: Herr Lehmann war hier

Element Of Crime präsentieren im Kreuzberger Musikstudio ihr neues Album

Der Mittelpunkt der Welt liegt an diesem Abend in einem Kreuzberger Hinterhof. Wer die drei Treppen des backsteinernen Gewerbebaus an der Schlesischen Straße hochsteigt, vorbei an Tischler- und Gerüstbauwerkstätten, betritt gewissermaßen Herr-Lehmann-Terrain. Das Tritonus-Tonstudio sieht, abgesehen vom noblen Studioequipment, exakt wie eine Großraum-WG der Achtzigerjahre aus. Vertrocknete Kakteen neigen traurig ihre Köpfe, in der Küche stehen Sperrmüllsofas und ein Flipper-Automat, man begrüßt einander mit Umarmungen.

„Das hier ist unser Nashville“, sagt Sven Regener. Seit ihrer – englischsprachigen – Platte „The Ballad Of Jimmy & Johnny“ (1989) hat seine Band Element Of Crime immer wieder in dieser LoftEtage aufgenommen. Auch das zwölfte Studioalbum „Mittelpunkt der Welt“, das im Oktober erscheint, entstand hier. Der letzte Studiotag: ein Grund zum Feiern.

„Man muss nicht pausenlos wegfahren. Manchmal ist es besser da zu bleiben, wo man ist“, erklärt Regener. Das gilt auch für die Songs seiner Band, die zuverlässig dieselbe Mischung aus Wohlklang und Melancholie verströmen wie vor zwanzig Jahren. Fünf, sechs Dutzend Freunde und Medienleute sind gekommen, man hockt andächtig im Schneidersitz hinter dem Reglerpult des Regieraums, von dem aus der Blick durch eine Glasscheibe ins Studio geht, wo sich ein Rudel leerer Mikrofonständer um einen Konzertflügel gruppiert. Jedes Stück, das in der „Listening Session“ erklingt, hört sich an, als ob man es schon von einer anderen Element-Platte kennen könnte.

Die musikalischen Ingredienzien sind vertraut: perlende Akustikgitarren, gestopfte Trompeten, Großstadtblues mit schleppenden Rhythmen. Regener singt mit Raufaserstimme, seine windschiefe Poesie ist noch immer unschlagbar. „Wo die Neurosen wuchern, will ich der Landschaftsgärtner sein“, heißt es in einem Lied, in einem anderen: „Wie sich die Wolken zusammenballen / Als ob es ihnen da oben friert.“ Die Songs erzählen von Liebe, von blindem Vertrauen und dem stillen Glück im Winkel: „Auf Baggerseen soll man nicht wandeln / Aber auf brüchigem Eis folge ich dir durch deine Kindheitserinnerungen.“

Element Of Crime-Platten sind eher für den Winter geeignet, eine Zeit, in der man sich in seinen Weltschmerz kuscheln möchte wie in eine warme Decke. Dabei sind die Temperaturen in dem sonnendurchfluteten Dachgeschoss subtropisch. Kristall-Rainer, Antipode des Helden aus Regeners Bestsellerroman „Herr Lehmann“, hätte an diesem Abend Pech. Es gibt nur lauwarmes Pils aus der Flasche, natürlich von einer Bremer Großbrauerei. Für ein Kamerateam muss die Band mehrfach im Gänsemarsch durch den engen Flur marschieren. Regener, der vorweg läuft, hat als Einziger aus dem Quartett noch keine grauen Haare. Schlagzeuger Richard Pappik erinnert mit seinem Strohhut an den späten Rio Reiser. Schüchtern nähert sich nachher ein Gast dem Sänger: „Ich krieg’ jetzt erst einmal eine Gänsehaut.“ Sven Regener drückt seine Hand und entgegnet: „Ist doch nicht nötig.“

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