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Kultur: Herzgeschichte, noch mal gutgegangen

Wer beschenkt eigentlich den Weihnachtsmann? Und darf man Heiligabend das Telefon abnehmen? Ein Fest voller Fragen

Der Weihnachtsmann saß auf einer Parkbank und ärgerte sich. Jetzt hatte er Hinz und Kunz Geschenke überreicht, nur seine eigene Familie, die hatte er vergessen. „Immer das Naheliegende“, schimpfte er, „immer das Naheliegende vergisst man!“ Gleichzeitig fühlte er sich jedoch, von einer bestimmten Warte aus betrachtet, nicht wirklich zuständig. „Wenn ich der Weihnachtsmann bin für die ganzen Leute“, dachte er, „muss es doch eigentlich auch einen Weihnachtsmann für mich geben. Alles andere wäre ja vollkommen ungerecht.“ Er fand, dieser Gedanke war sehr schlüssig, bis ihm einfiel, dass es, so gesehen, dann ja auch einen Gott für Gott geben müsste. Oder für einen Menschen namens Thomas einen weiteren Thomas ... Aber so sollte es sein um der Gerechtigkeit willen. Alles sollte es doppelt geben. Zumindest alles, was irgendwie lebt.

Der Weihnachtsmann fing an, zu schwitzen vor lauter Gedankenanstrengung, obwohl es ziemlich kalt war da draußen. Er nahm seinen Bart ab und trank einen Schluck aus dem Flachmann, den er immer bei sich trug. Das tat sehr gut. Wieso eigentlich: Weihnachtsmann? Bloß weil er in diesen blöden Klamotten in der Lebensmittelabteilung an der Probiertheke stand, war er doch noch lange nicht der Weihnachtsmann. Sein Name war Kölbing, und so würde er auch immer heißen. Trotzdem hatte er keine Geschenke für seine Familie. Das war natürlich blöd. Nach Hause kommen und in die erwartungsvoll leuchtenden Augen der Kinder schauen mit leeren Händen. Was für ein Unmensch war er eigentlich? Obwohl, bei Licht betrachtet, so schlimm war er nun auch wieder nicht. Denn im Grunde hatte er gar keine richtige Familie. Oder kurz gesagt: gar keine Familie. Kölbing streckte die roten Arme in die Luft: „Ich bin frei“, rief er. „Ich bin total frei, ha ha!“

Ein ernster junger Mann, der wie ein Theologiestudent aussah, kam in diesem Augenblick an der Bank vorbei und blieb bei Kölbing stehn. „Die Freude nehm ich ihnen nicht ab“, sagte er und schaute Kölbing durchdringend an. „Wo kommen Sie denn auf einmal her?“ Kölbing schien ehrlich erstaunt. „Aus der Messe“, erwiderte der junge Mann und schaute ernst. „Aus der Messe, auf die Fresse!“ Kölbing lachte laut und schlug seine Weihnachtsmannhandschuhe gegeneinander. „Wenn sie das lustig finden ...“ Der junge Mann hätte gern noch mehr gesagt, aber es fiel ihm nichts ein. Wie vielen Menschen, die sich ununterbrochen über die großen Dinge des Lebens Gedanken machen, fehlte es ihm an Schlagfertigkeit. Er hasste Situationen wie diese und geriet trotzdem immer wieder in sie hinein. Auch diesmal wusste er sich nicht anders zu helfen, als schnell weiterzugehen.

Kölbing lachte noch eine Weile vor sich hin. Dem hab ich’s gegeben, dachte er. He he. Dann überlegte er, was als Nächstes zu tun war. Die klare Antwort lautete: nichts. Langsam wurde ihm jämmerlich zumute. Wenn ich wirklich der Weihnachtsmann wäre, könnte ich wenigstens irgendwo klingeln, ging es ihm durch den Kopf. Er nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche. Es war der letzte. Dann stand er auf und klebte sich seinen Bart wieder an. Er schwankte etwas. „Ich tu einfach so, als wär ich’s“, sagte er laut. „Ich guck durchs Fenster, wo was leuchtet, mit Leuten drumrum. Dann klingel ich. Die werden sich bestimmt alle saumäßig freuen!“ Kölbing summte etwas, das entfernt wie ein Weihnachtslied klang, und ging davon.

* * *

Als Veronika und Karsten endlich vor ihrem Weihnachtsbaum saßen, waren sie sehr erschöpft. Dafür sah der Baum aber auch wirklich gut aus. Nicht zu groß, nicht zu klein und mit allem behängt, was sich über die Jahre in den dafür vorgesehenen Schachteln angesammelt hatte. „Puh“, machte Veronika, „jedes Jahr derselbe Stress. Warum tun wir uns das eigentlich an?“ Da klingelte das Telefon. Veronika hielt Karsten, der gerade aufstehen wollte, am Arm fest. „Warte, das ist bestimmt Mutter, aber ich kann jetzt nicht.“ „Sie weiß aber, dass wir auf jeden Fall zu Hause sind ...“ Karsten sprach unwillkürlich leiser, so als könnte der Anrufer durch das nichtabgehobene Telefon mithören. „Bestimmt will sie, dass wir doch noch kommen“, flüsterte Veronika zurück, von Karstens Geheimniskrämerei angesteckt. „Wenn sie uns nicht erreicht, wird sie sich Sorgen machen und gleich losfahren.“ Karsten schnaufte: „Dann machen wir eben die Lichter aus und stellen uns tot!“ Das Telefon klingelte noch immer. „Wir können uns doch nicht ausgerechnet Heiligabend tot stellen. Das glaubt uns doch keiner. Da müsste dann schon wirklich was passieren.“ „Du meinst, wir bringen uns in echt um?“ Veronika lächelte unsicher. „So meine ich das nicht. Aber wir müssen irgendwas tun.“

Das Telefon verstummte. Karsten ging hin und hob den Hörer noch mal ab, nur testweise. Es war wirklich niemand mehr dran. „Was machen wir?“ Karsten schaute Veronika ratlos an. „Einen gemütlichen Abend zu zweit verbringen, wie wir es vorhatten“, entgegnete diese bestimmt und lehnte sich demonstrativ zurück. Karsten blieb stehen. „Hatte deine Mutter nicht letztens diese Herzgeschichte, wo der Arzt meinte, noch mal gutgegangen?“ „Meine Mutter hat vor allem Geschichten zu erzählen. Im Übrigen ist sie meine Mutter. Wenn sich also jemand Sorgen machen müsste, dann ich. Und ich mach mir jetzt keine.“

Der Punkt am Satzende bedeutete Karsten, dass das Thema für diesmal durch war. Er setzte sich also wieder still neben Veronika. Keiner sagte etwas. Auch das Telefon klingelte nicht mehr. „Was fandest du eigentlich so stressig heute?“, fragte Karsten schließlich, nur um überhaupt etwas zu sagen. „Was ich stressig fand? Sag mal ... na ja, klar, für dich war das natürlich ...“, Veronika war wieder aufgestanden und suchte mit den Händen nach Worten – „ach, vergiss es.“ „Was soll ich vergessen. Jetzt komm schon. Du meinst, ich hab den ganzen Tag nur blöd rumgesessen, oder was?“

Auch Karsten lief jetzt vor dem Weihnachtsbaum hin und her und atmete hörbar. „Was regst du dich denn jetzt so auf“, Veronika saß schon, als es wieder zu klingeln anfing. Dieses Mal allerdings an der Tür. „Baum aus!“, schrie Veronika und deutete mit ausgestrecktem Arm und verzerrtem Mund auf die Lichter. Auf einmal war es Nacht. Wieder ging die Klingel. Dann hörte man ein eigenartiges Schaben, wie wenn ein Tier an der Tür kratzt, und dumpfes Gemurmel. „Das ist nicht Mutter.“ Veronikas Gesicht schimmerte bleich im Dunkel. „Ich werde jetzt gucken, was da los ist!“ Karsten straffte sich und ging mit extra lauten Schritten und einer demonstrativen Melodie auf den Lippen zur Tür. „Hallo, wer ist denn da?“, rief er, ohne aufzumachen. „Der Weihnachtsmann“, klang es verschwommen von draußen. „Da sind sie hier falsch, wir haben keinen bestellt“, rief Karsten zurück. „Jetzt machen sie schon auf, ich hab ihnen was mitgebracht“, brummte der Weihnachtsmann durch die Tür.

Karsten öffnete einen Spalt. Draußen stand Kölbing in seinem Kostüm und rief: „Guten Abend. Ich schenke Ihnen meine ganze Liebe!“ Mit diesen Worten fiel er vorwärts in den Flur hinein und blieb liegen. Karsten starrte fassungslos auf den rot-weißen Haufen zu seinen Füßen. „Veronika“, rief er mit leicht überkippender Stimme. „Jetzt schau dir das mal an.“ Veronika betrachtete Kölbing. „Der wird uns nicht stören, die nächsten drei Stunden“, sagte sie bestimmt. „Und wenn er aufwacht, kriegt er einen Tee. Schließlich ist heute Weihnachten.“ Damit drehte sich Veronika um und ging ruhigen Schrittes zurück ins Wohnzimmer.

Karsten folgte ihr, nicht ohne sich mehrmals umzusehen. Dann tranken sie einige Gläser Punsch und unterhielten sich immer besser. Schließlich fingen sie sogar an, sehr viel zu lachen, obwohl es gar keinen Grund dafür gab. Irgendwann stand der Weihnachtsmann im Zimmer und lachte mit. Sie fassten sich an den Schultern und tanzten im Kreis. „Wir haben die Geschenke vergessen“, sangen sie, „aber das macht nichts!“ Sie sangen so laut, dass sie das Telefon überhörten, das im Nebenzimmer seit zwei Minuten klingelte.

Der Autor ist Schriftsteller und Sänger der Band Sorr Gilberto. Zuletzt erschien von ihm „Falsche Russen im Buch“ im Kookbooks-Verlag.

Jakob Dobers

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