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Kultur: Herzkammern im Takt

Poesie der Leichensektion: eine Berliner Gedenkveranstaltung für Dr. Gottfried Benn

Zunächst öffnete er Leichen nur literarisch: „Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.“ Das steht in der Gedichtsammlung „Morgue“, die 1912 erschien und um Schockeffekte nicht verlegen war. Im selben Jahr trat ihr Autor, Dr. med. Gottfried Benn, eine Stelle als Assistenzarzt an der Prosektur des Charlottenburger Westend-Krankenhauses an. Er öffnete mehrere Leichen pro Tag und verfasste an die 300 Sektionsprotokolle: „Muskulatur rot, Kammern im Takt“, heißt es darin. Jahrelang dümpelten die Protokolle in Kellern und Archiven vor sich hin. Am Wochenende wurden sie nun vor Ort, den heutigen Kliniken Berlin Westend, öffentlich vorgestellt, im Rahmen einer klug konzipierten Gedenkveranstaltung, die ausdrücklich den Dichter und Arzt würdigte.

Gleich zu Beginn reklamierte der Mediziner Ernst Kraas Benn als „einen der Unsrigen“, gab aber zu, dass dies wohl auch Literaturwissenschaftler behaupten. Zunächst aber gehörte Benn der Medizin. Die Neuropathologin Gisela Stoltenburg trug aus seinen Sektionsprotokollen vor und erläuterte Benns klinische und anatomische Diagnosen. Ihr eigener Befund bezüglich der Protokolle war ein doppelter: Zum einen beschreibe Benn einen Infarkt zwar recht poetisch, aber medizinisch durchaus korrekt. Zum anderen würden seine Einträge im Lauf der Zeit immer unleserlicher und kürzer: „Ein Pathologe am Ende seines pathologischen Enthusiasmus“, schloss sie nicht ganz ohne poetischen Enthusiasmus. Das wiederum mochte der Literaturwissenschaftler Christoph Hoffmann so nicht gelten lassen. Er verwies auf die Differenzen von Poesie und Protokoll: Letzteres sei um Standardisierung bemüht, um die Tilgung unverkennbarer Stilspuren. Zwar weise es eine Fülle von Adjektiven auf, aber das sei Schulung und nicht Lyrik. Gelernt, so Hoffmann, habe Benn von dem um Eindeutigkeit bemühten Protokollstil dennoch, nämlich Aufmerksamkeit für den Akt des Schreibens und die Uneindeutigkeit von Sprache: „Blut ist eben nicht kirschrot, sondern wird als solches lediglich bezeichnet.“

Überhaupt: Benn, die Protokolle und die Adjektive. Von seinem Schriftstellerkollegen Carl Sternheim erhielt er 1917 den Rat: „Streichen Sie die Adjektive!“ Benn wird diesen Satz noch oft zitieren. Nach Hoffmanns Ausführungen bekommt man ein Ahnung, warum: Die Furcht vor dem Adjektiv ist die Furcht vor dem Eindringen des Sektionsprotokolls in die Dichtung – und der Benn der Literaturwissenschaft dann doch ein anderer als der Benn der Medizin. Aber genau das hat er sich mit seinem Konzept des Doppellebens selbst eingebrockt.

Einen dritten Benn präsentierte dann Helmut Lethen, der gerade mit dem „Sound der Väter“ (Rowohlt) eine lesenswerte Studie über Benn vorgelegt hat. Im voll besetzten medizinischen Hörsaal führte er vor, wie sich Benns Gedicht „Stadtarzt“ zur Melodie von „Ehre sei dir, Christe“ singen lässt: „Stadtarzt, Muskelpresse, /schaffensfroher Hort, /auch Hygienemesse /großes Aufbauwort, /wunderbare Waltung, /was der Hochtrieb schuf, / täglich Ausgestaltung, / Schwerpunkt im Beruf.“ Der abtrünnige Pfarrerssohn ein heimlicher Verfasser von Kirchenliedern? Das Liedhafte mancher Gedichte spricht dafür. Auch dass er gegen Ende seines Lebens so entschlossen in die Kneipe ging wie andere Leute in die Kirche. Nur welchem Gott er dort huldigte, bleibt sein Geheimnis. Und das der untergärigen Braukunst: Benn war bekennender Pilstrinker.

Thomas Wegmann

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