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Kultur: Hexenküche der Moderne

Bloß keine Mahler-Müdigkeit: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker begeistern mit der dritten Symphonie

Es gibt Ereignisse im Leben, Feste, Kunstgenüsse, Abschiede, Siege, die ergreifen einen erst so richtig, wenn sie schon wieder vorbei sind. Natürlich ist Gustav Mahlers dritte Symphonie (in der schwermütig-schwärzlichen Tonart d-Moll), wie Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker sie spielen, zunächst einmal das Herzstück eines Konzerts, für das der Großteil der internationalen Musikszene auf den Knien nach Berlin rutschen dürfte (man muss das mal so ungeschminkt sagen). Weit, sehr weit werden einem hier die Sinne geöffnet: Was ist da nicht alles zu hören, zu fühlen, zu kombinieren, Funken sprühen über den Köpfen des Publikums in der voll besetzten Philharmonie, elektrisch knistert die Luf. Und zwar bis ganz zum Schluss, wenn Sir Simon sich den Weg durchs Orchester bahnt und dem sichtlich gerührten Albrecht Mayer die Hand schüttelt, dafür dass er im vierten Satz, dem Misterioso nach Nietzsches Zarathustra-Worten „Oh Mensch! Gib Acht!“, das Oboen-Solo tatsächlich hat schleifen und kieksen lassen, jenseits jeden bloß schönen Legatos und „wie ein(en) Naturlaut“, ganz wie es die Partitur verlangt.

Der Mut zum Geräuschhaften, die Suche nach historischen Spieltechniken bei Mahler – allein darüber ließe sich leidenschaftlich philosophieren. Gustav Mahler, der Romantiker? Mahler, der Zuchtmeister, der seinen Musikern (als Dirigent) mit drastischen Mitteln genau jenen Schmäh auszutreiben versucht, sämtliche Zynismen, Banalitäten und außermusikalische Wahrheiten, von denen er als Komponist wiederum lebt? Bei solchen Fragen ist jede Mahler-Müdigkeit wie weggeblasen; eine Müdigkeit, die sich leicht einschleicht bei zwei aufeinanderfolgenden Jubeljahren (150. Geburtstag 2010, 100. Todestag 2011) und den überall sich ballenden Zyklen, Symposien und sonstigen pflichtschuldigen Gedenkereien.

Das rein Phänomenologische oder Ästhetische von Rattles Interpretation der Dritten aber ist es gar nicht (oder jedenfalls nicht allein), was einen so lange hinterher noch und eigentlich erst mit dem Applaus, den aufrauschenden Ovationen erschüttert. Als realisierte man erst in diesem Augenblick, was man erlebt und erfahren hat, als spielte das gesamte vegetative Nervensystem verrückt, die moderne Psychologie kennt das. Mahler, der Schamane? Rattle, sein Hexenküchenmeister? Die Dritte als jene „Wunderhorn“-Symphonie, die das Geworfensein des Menschen in die Schöpfung am inbrünstigsten feiert und verflucht, mit Blumen, Tieren, Engeln, Militärkapellen, den Posaunen von Jericho, Frauen- und Kinderstimmen? Plötzlich sitzen einem der Aufruhr in der Musik und der Aufruhr in der Welt fest im Nacken und sind kaum mehr voneinander zu unterscheiden.

Die intellektuelle Kraft, mit der Simon Rattle Mahlers über 90-minütiges „Monstrum“ bändigt, fasziniert. Der Bogen, den er vom ersten Unisono der Hörner an spannt, endet tatsächlich erst mit dem Schlusschoral – in einem Finale (Langsam. Ruhevoll. Empfunden), das trotz seiner unendlichen Melodie immer wieder auch fahlere Farben beschwört, Leer- und Nahtstellen. Dabei agiert Rattle keineswegs sonderlich „kritisch“ und dialektisch-aufgeklärt à la Gielen oder Boulez, indem er das Machartliche und Montierte betonte, die Strukturen, im Gegenteil. Seine Tempi sind ausgesucht langsam, nicht nur im Misterioso (was die Altistin Nathalie Stutzmann trotz allen Wohllauts ein wenig in Deklamationsnöte bringt). Mal, wie im Kopfsatz, breitet er das Material genüsslich aus, und alles wird groß und ist groß, von den ersten saftigen Abstrichen der Streicher bis zu den brutalen Schlägen von Pauke und Trommel; und mal – wenn Blumen und Tiere sprechen – nimmt er das Geschehen ganz luftig und trocken und kammermusikalisch-gespinstig, als atmete man Märchenwaldduft oder wenigstens den eines Gewächshauses. 1895/96, als die Dritte entstand, war Mahler noch sehr viel mehr Kind seiner Zeit als Prophet eines hysterischen 20. Jahrhunderts. Das ist Rattles Botschaft. Deshalb die für ihn eher ungewöhnliche Agogik, das geradezu jugendstilige Schwelgen im Verlangsamen und Beschleunigen des musikalischen Prozesses (sehr sportiv: das Finale des ersten Satzes!). Und deshalb auch die Anreicherung des Programms vorneweg mit zwei Miniaturen von Brahms („Es tönt ein voller Harfenklang“ op. 17,1) und Hugo Wolf („Elfenlied“).

Vieles, was sich unter den Philharmonikern (stimmkräftig unterstützt von den Damen des Rundfunkchors Berlin und den Knaben des Berliner Staats- und Domchors) während dieser Aufführung abspielt, scheint an Magie zu grenzen. Die Musiker vertrauen einander nicht nur blind, sondern sind imstande, sich permanent gegenseitig zu inspirieren, ja zu übertreffen, an Fantasie, Kühnheit, Spiellust, kleinen Neckereien. Das fängt bei Guy Braunsteins Violinsoli an, die in ihrer Lässigkeit jedem Wiener Stehgeiger zur Ehre gereichten, und hört bei Tamás Velenczeis wundervoll beseeltem Posthorn noch lange nicht auf. Trompeten, Posaunen, Schlagwerk, Kontrabässe, Celli, Bratschen, die zweiten Geigen: Man könnte das Fürchten kriegen vor so viel Qualität. Und vor so viel Weltfühligkeit und Zeitfühligkeit erst Recht.

Noch einmal heute. Das Konzert wird auch unter www.digital-concert-hall.com im Internet übertragen.

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