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Himmelhoch jauchzend, im Flure betrübt: Zu Besuch in Le Corbusiers "Wohnmaschine"

Aussicht über Grunewald, Fernsehturm und Teufelsberg: Die "Wohnmaschine" des Architekten Le Corbusier erregt seit 1958 die Gemüter. Eine Aufzugfahrt.

„Feierabend, ja?“, beginnt die ältere Dame den Smalltalk im Fahrstuhl. In einem Tonfall, der von vornherein klarstellt, dass ihr die Antwort egal ist. „Ich? Immer! Bin schon lange fertig, 66, dritte Ehe.“ Der Mann in der grünen Jacke lacht abrupt, dann sieht er den Zahlen auf der Anzeigetafel zu. 3, 4, 5, 6. Bing! Die Tür schiebt sich auf. Er murmelt eine Verabschiedung, sie lächelt höflich. Die Tür schiebt sich zu. 7, 8, 9.

Bing! Jetzt erst setzt der Schock ein. Ja, man hat das Corbusierhaus schon oft von außen gesehen, das sich auftut wie eine riesige, unüberwindbare Wand. Aber erst in Straße 9, einem 140 Meter langen Flur mit flackernden Neonröhren statt Tageslicht, versteht man, warum der Prestigebau der Fünfziger auch den Beinamen „Haftanstalt“ trägt: Weißer Anstrich. Fades Linoleum. Guckloch an Guckloch. Es ist eng, leer und so still, dass der Zeiger einer simplen Wanduhr geradezu dröhnend umschlägt. Flatowallee 16, Westend, Charlottenburg. Schauplatz für Horrorfilme.

„Den Gang habe ich nie ganz überwunden“, gibt Sabine Schulte-Schaefer zu. „Da ist es wie im Gefängnis oder auf dem Schiff.“ Sonst aber schwärmt die Malerin mit ausladender Gestik. Unter den 1000 Mietern und Eigentümern haben sie und ihr Mann ein dreizimmeriges Filetstück abbekommen: „Mit Ost- und Westbalkon. Bei schönem Wetter können wir bis nach Potsdam sehen.“ Seit 52 Jahren leben die beiden in Wohnung 9.08. Sie gehörten damals zu den Ersten, die 1958 in jene „Unité d'Habitation“ einzogen, die Le Corbusier, der Schweizer Jahrhundertarchitekt, Technikverehrer und Naturfreund, für die „Interbau“ geschaffen hatte.

Dass der Formfanatiker Ornamente verabscheute, war damals längst bekannt. Seine Forderungen nach Licht, Pragmatik und Funktionalität sollten einen neuen Lebenswillen verkörpern, industriellem Fortschritt und klaren Gedanken huldigen. Le Corbusiers „Wohnmaschinen“ aus Beton und Stahl, 17-geschossig und auf Stützen stehend – vier andere ragen in Marseille, Nantes, Briey en Foret und Firminy aus dem Nichts – waren Absagen an Verspieltes, Verklärtes, Vergangenes.

Und Versprechen eines distanzierten Zusammenseins. Hier draußen, nahe dem Olympiastadion, mit einer Aussicht über Grunewald, Fernsehturm und Teufelsberg, fühlte es sich weltmännisch an. Oder wie auf dem Dorf. „Weil sich hier enge Freundschaften gebildet haben, weil die Kinder von unten und oben mit unseren Kindern spielten“, sagt Sabine Schulte-Schaefer. „Weil hier am Fenster die Welt nicht aufhört. Weil die ganze Außenwelt auch hier drin ist.“ Sie jedenfalls findet ihre 100 Quadratmeter einfach „himmlisch“.

Es stimmt – obwohl Corbusier mit seinem „Typ Berlin“ immer unzufrieden war, weder Schule noch Freilufttheater auf dem Dach gebaut werden durften, und die Deckenhöhe auf 2,65 Meter statt 2,26 Meter erhöht werden musste. Wer auf oberster Etage den 180-Grad-Blick über die Hauptstadt genießen darf, wer einmal diese Luft gerochen hat, vergisst die 500 Appartements, die unter einem liegen.

Im Aufzug mieft es. Chinesische Reisnudeln. Als es dieses Mal „Bing“ macht, bleibt die Bestürzung aus, brutalistische Architektur härtet ab. Stockwerk 1 sieht ja genauso aus wie sämtliche Stockwerke darüber. Dieselben grünen Eingangstüren. Dieselben schwarzen Klingelschilder. Derselbe silberne Müllschlucker, der am Ende jedes Korridors elegant in die Wand eingelassen ist.

Doch dann, einmal rechts abgebogen, ist er plötzlich da, dieser Eckraum, der gute Ideen behaust und Neues mit Altem mischt. Gerade noch hat man Weißwein auf Frau Schulte-Schaefers Sofa genippt, jetzt sitzt es sich auch bei Wasser auf Plastikstühlen ganz ordentlich. Schließlich gibt es Bilder zu bewundern, Grafiken der sechziger Jahre. Sehr akkurat, sehr formsicher, sehr Bauhaus. Auch sie künden von einer Zeit, in der man nur eine Richtung kannte. Die nach vorne.

„Raum 9 Wohnung 158 soll von allgemeinerer Art sein als eine Galerie“, erklärt Petra Goldmann das Zimmerchen, in dem sie regelmäßig für Ausstellungen sorgt. Es ist auch „Anlaufstelle“, ein Ort, an dem Bewohner des Corbusierhauses über Gestaltung philosophieren oder Geschirr tratschen können.

Tassen und Teller sind in einem Regal aufgereiht, sauber und keinesfalls verschnörkelt. Manche hat die Kuratorin auf dem Flohmarkt aufgespürt, manche bei anderen Mietern. Ob sie nach den Jahren, die sie mit ihrer Familie in der Wohneinheit verbracht hat, je die Sehnsucht nach Stuck und Flügeltüren verspüre? „Das habe ich hinter mir“, meint sie schlicht. Nun wolle sie Menschen ein „Bewusstsein für die Kultur des Alltags“ zurückgeben, das langsam aber sicher verloren gehe. Wer kauft sich schon ein echtes Sonntagsservice, wenn 24-teilige Bestecksets bei Ikea 7,99 Euro kosten?

Ein bisschen Alltagskultur wäre genau das Heilmittel, das dem krankenden Haus bekommen würde. Die Arztpraxen, Blumen- und Gemüseläden, die nach und nach wegen zu hoher Mieten aus der vertikalen Stadt verschwanden, hinterließen nicht bloß den Baukünstler mit Fliege, Hornbrille und dem bürgerlichen Namen Charles-Édouard Jeanneret verärgert zurück. Sie hinterließen auch Narben.

Wer seinen Feierabend begießen will, muss sich auf einen letzten Kiosk im Foyer verlassen. Also rein in den Lift und: 1, Bing! Erdgeschoss.

„Konkret – Sehen + Gebrauchen“, Raum 9 Wohnung 158, Corbusierhaus, Flatowallee 16, bis 20. März, So 12-17 Uhr sowie nach Vereinbarung.

Weitere Informationen: www.corbusierhaus.org

Annabelle Seubert

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